Ja, zuallererst denkt man an Paul Celan, an die »schwarze Milch der Frühe« aus seinem Gedicht »Todesfuge«. Aber die Geschichte, die Uisenma Borchu erzählt, hat damit nichts zu tun, oder doch: insofern, als auch hier zwei Gegenwelten in Beziehung gesetzt sind. Zwei Schwestern, die eine in Deutschland, die andere in der Heimat Mongolei. Die eine wird Wessi (gespielt von der 30-jährigen Regisseurin), die andere Ossi (Gunsmaa Tsogzol) gerufen – zwei Chiffren also, Prinzipien, Kontraste. Als solle der Name das wesentliche Merkmal benennen. In der Wüste Gobi geboren, wurden sie als kleine Mädchen getrennt, aber die Sehnsucht nacheinander blieb. Sie sei feige, sagt ihr Freund Franz (Franz Rogowski) aggressiv, sie würde doch nicht fliegen, sie gehöre zu ihm. »Ich gehöre Dir«, echot sie, indem sie die Worte auf den Lippen zergehen lässt. Man ahnt, es ist nicht der erste heftige Streit über die Identitätskrise der jungen Frau.
Nur ein Schnitt weiter und sie landet in Ulaanbaatar und reist zu ihrer Schwester. Die lebt mit ihrem Mann als Nomadin in einer Jurte, weit und breit allein in der Steppe. Die große Stieffamilie kommt zusammen, um »diesen neuen Menschen« zu begrüßen. Alles befremdlich, das Sprechen, Singen, Essen, die Arbeit und Gebräuche und das Selbstverhältnis und Selbst(wert)gefühl auch als sexuell begehrende und begehrenswerte Frau. Nur die Männer sind hier und dort gleich, keine Musterexemplare. Die nicht nur geografische Distanz zieht die Spannung zwischen den Schwestern wie ein straff gespanntes Seil. Es muss sich lockern. Dafür aber müssen beide nachgiebig sein. Die durch die (vorwiegenden) Laiendarsteller noch intensivierte dokumentarische Kamera, die die ferne Lebenswelt authentisch aufnimmt, schaut gewissermaßen mit einem zweiten, magischen, Auge, als würde eine fantastische, träumerisch inszenierte, immer wieder von Mozarts Adagio aus dem 23. Klavierkonzert übermalte Wirklichkeit betrachtet.
»Schwarze Milch«, Regie: Uisenma Borchu, D 2020, 91 Min., Start: 23. Juli