Leicht lässt sich vergessen, wie jung er noch ist, gerade mal 30 und hat – bei acht Filmen in zehn Jahren – mindestens drei Meisterwerke: »Laurence Anyways«, »Mommy«, »Einfach das Ende der Welt« – gedreht. Früh reif, nicht frühreif ist der Kanadier und Hybrid-Kreative Xavier Dolan, der zudem meistens als sein eigener Produzent, Autor, Darsteller, Montagemeister und Kostüm-Designer verantwortlich zeichnet.
Film ist Bewegung, 24mal in der Sekunde. Das ist seine Wahrheit. So ein Film ist »Matthias & Maxime« – furios, zügellos, schnell, sprunghaft; und ein bisschen nachgespült von der französischen Nouvelle Vague. Aus ähnlicher Nervosität heraus hat Patrice Chéreau sein unstetes Requiem »Wer mich liebt, nimmt den Zug« gefilmt. So fängt auch Dolan an: zwei junge Männer, Matt und Max, auf einem Laufband im Fitnessstudio. Sie rennen, aber kommen nicht vom Fleck. Das scheint auch der Status ihrer Freundschaft seit Kindertagen. Dann stehen sie mit dem Auto im Stau, bevor sie auf freier Strecke fahren. Die gelbe Fahrbahn-Markierung gibt den Weg vor. Eine durchgezogene Linie, eine Trennlinie. Auch das kennzeichnet die Beziehung von Maxime Leduc und Matt Ruiz (Gabriel D’Almeida Freitas), bislang.
Max’ Gegenwart hat den Countdown begonnen, wenige Tage noch und er verlässt seine Heimat, um für zwei Jahre nach Australien zu ziehen. Die gemischte Stimmung aus Hektik und Wehmut des Aufbruchs nimmt der Film auf. Und gibt keine Ruhe: Super-8-Bilder, Split-Leinwand, Reißschwenks, Handkamera, Zeitraffer. Springlebendiger, alberner Übermut, sprudelnde Dialoge, Lust aus allen Poren, das Leben – eine laute Party. Max und Matt gehören zu einer Clique, die sich eher wie ein Rudel verhält. Eine Geschichte der Splitter und Fragmente, des Unsteten und Instabilen. Eine einzige Suchbewegung, als könne die Kompassnadel keinen Halt finden. Offensiv unsentimental.
Kurz vor Schluss wird Max in einer Schublade von Matts Mutter Francine eine Kinderzeichnung des siebenjährigen Freundes sehen: getitelt »Der Hof von M & M«, in dem er sich die Fantasie gemeinsamer Zukunft ausgemalt hat. Kann Max in letzter Sekunde seine Entscheidung zurücknehmen? In dem Moment hält der Film ein und endet.
Der Zuschauer hatte die Ahnung, es könne eine Zielrichtung geben, auch wenn das, was geschieht, sich im Kreise zu drehen scheint und wie in einer Wiederholungsschleife windet – in Erwartung des Einen und Eigentlichen: eines Zeichens, Bekenntnisses, Eklats: des Kusses. Einer Gewähr im Ungewissen. Es sind weniger fest umrissene Charaktere als in Dolans vorangegangenen Filmen; auch der Glanz des von sich selbst Berauschten fehlt. Nur die Musik, für dessen Einsatz Dolan ein besonderes Sensorium hat, feiert hymnisch die Emotion. Es ist ein Film der Männer, während Mütter-Frauen palavern, soubrettieren und in ihren adretten Kostümchen nerven.
Max (Dolan) – rotes Feuermal auf der Wange, über und über tätowiert – kommt aus dem sozialen Abseits, wieder einmal eine vaterlos zerrüttete und gewiss keine »Heilige Familie«, wie eine große Werbetafel verheißt, auf der sein Blick gleich zu Anfang verharrt; wieder eine der fatalen Mutter-Sohn-Beziehungen mit Maman, die drogensüchtig war, nun clean ist, aber Betreuung braucht. Max jobbt in einer Bar und ist zu schön, um sich liebenswert zu finden. Aber er weiß, was er will – und wen: Matt. Der lebt wie unter Vakuumverschluss, vergräbt seine Gefühle, bevor er nach ihnen schürft und fündig wird. Max spürt genau, dass hinter Matts’ Unsicherheit, Abwehr (»Das sind nicht wir«) und Aggressivität, wenn er Max das böse Wort »Tintenfleck« anheftet, etwas Anderes verbirgt. Begehren bleibt das große Thema von Xavier Dolan.
»Matthias & Maxime«, Regie: Xavier Dolan, Kanada 2019, 120 Min., Start: 29. Juli