Ausgerechnet Müllmenschen. Da stehen sie auf der Kölner Domplatte in Reih und Glied, aus Müll zusammengepresste Kunst-Figuren des Aktionskünstlers HA Schult, abgesperrt durch einen Zaun, bewacht von allerlei Personal. Ein paar Meter und einige Treppen weiter, im tiefen Untergeschoss des Museum Ludwig, hat Bazon Brock zum »Lustmarsch durchs Theoriegelände« angesetzt. Es ist die dritte Station einer Veranstaltungstournee, die der Ästhetik-Professor zu seinem 70. Geburtstag unter der Überschrift »vom Sorgenkind zum Wundergreis« initiiert hat und die ihn neun Monate lang in Museen und Kunstsammlungen von elf Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz führt.
Nun also Köln. Inmitten von Bildern, Skulpturen, Installationen erfährt der Besucher: »Alles Wissen kommt aus dem Müll, wir sind Müllmänner.« Und die Müllhalden als »Tempel der Moderne« vermitteln einen »realistischen Eindruck von der eigenen Zukunft, von der eigenen Nichtigkeit.« Einige Tage später im Gespräch zu Hause bei Brock in Wuppertal antwortet er auf die Frage, was er denn von den Müllmenschen von HA Schult halte: »Dieses Thema ist viel zu ernst, als es solchen Kitsch-Künstlern und ihren Basteleien zu überlassen.« Da sei es wohl bei ihm besser aufgehoben? »Selbstverständlich!« Aber zurück ins Museum Ludwig. Eine Supervision wolle er geben, einen Überblick über das Leben im Allgemeinen und Besonderen.
Als Ästhetiker ist er »Spurensucher, der aus einer Architektur, einem Stofffetzen, einem Text auf die Gefühle, Vorstellungen und Gedanken zurückschließt, die diese Spuren ausgelöst haben.« So hat Brock für diese Geburtstags-Kunstgala »sein Leben zusammengetragen« von der Geburt bis zum Grab: Kinderwagen und Laufstall, Wohnzimmer-Garnitur, Beichtstuhl, Kruzifix und siebenarmiger Leuchter, eine Ansammlung von Badelatschen aus Hotels der ganzen Welt, Krawatten, Gewehre, Trompete, ein Sarkophag und eine Grabplatte, Fotos von Happenings, von Action-Teachings, wie Brock seine Aktionen allein oder mit Künstlern nennt.
Wobei er, selbstverständlich, auch Künstler ist, »das ist eine Lebenshaltung«. Nur Kunstwerke produziere er nicht. Sondern er demonstriert in seinen Aktionen, »wie man mit Hilfe künstlerischer Techniken Lebensanstrengungen bewältigen kann.« Und: Er »bildet Betrachter aus«, er redet, schreibt, diskutiert über Kunst, über Themen aus Literatur, Theater, Film, Fernsehen, Hörfunk – und das seit 50 Jahren. Außer diesem nun ausgestellten »Lebenswerk « besitzt Brock »nichts auf Erden«. Selbst Wohn- und Schlafzimmer in Wuppertal seien gemietet – »eine philosophische Einsicht.« Bazon Brock, Adorno-Schüler, emeritierter Professor für Ästhetik an der Bergischen Universität Wuppertal, Kunsttheoretiker, Kunstvermittler, Kulturkritiker, selbsternannter »Generalist«, »Beweger«, »Selbstfesselungskünstler«, zieht Bilanz. Vier Stunden redet er, scheinbar mühelos, unterbrochen von nur einer längeren Pause, ohne sich zu versprechen, nur ab und zu hilft ein ehemaliger Student seinem Gedächtnis aus, mit einem Wort, einer Jahreszahl. Vier Stunden Welterklärung von den Etruskern bis heute, vom Europa des 13. Jahrhunderts bis zu seinem nahen Untergang – was liegt da näher, als sich schon einmal jetzt vorzustellen, welche »archäologischen Funde chinesische Forscher in 80 Jahren in Europa ausgraben werden«: Tropfenfänger für Kaffeekannen, Wurstaufspießer, ein Gerät für Butterornamentik, Herrensockenhalter oder Brustwarzenschoner, kleine Pflaster für die Damen, »damit der Blusenstoff nicht scheuert.« Aber nicht nur China, auch die »islamische Welt zwingt uns, zu überlegen, was wir mit ins Grab nehmen, wenn Europa verschwindet«. Also sammelt Brock »Grabbeilagen für seine Generation« mit der Aufforderung, »jeder möge dazu sein Wohnzimmer aufräumen.« Es folgt eine Abhandlung über die weisen Etrusker und ihre Grabkammern, ihr Bewusstsein von der Endlichkeit der Macht und des einzelnen Lebens, und damit von der »Würde des Augenblicks, des Einmaligen«, das sie lächeln machte. Brocks Rat an Joschka Fischer: Er solle in Italien nicht nur Lambrusco trinken, sondern in etruskische Gräber gehen und das etruskische Lächeln anschauen. Auch das ist für Brock übrigens (untergangsgeweihtes) Europa: Seine Politiker sind »Nichtskönner«, »Phrasendrescher«, »operettenhafte Gestalten«.
Zur »europäischen Identität« gehören in Brocks »Theorielabor« auch mehrere Totem-Themenpfähle. Der »Pilgerstab« ist behängt mit Birkenstock-Sandalen, Rucksack, »Grünen«-Plakette, Wörterbuch, Bierflasche, Leibnitz-Keks – »Nahrungsmittel als Zeichen von Autarkie « – Uhu, Tesafilm, Tempotüchern, Nivea, Odol und einem Teddy. Der zweite Pfahl zeigt »Todesbereitschaft«: Soldatenhelm (»Tarnkappe «), Totenkopf, Verdienstkreuz, Eierhandgranate, Kochgeschirr, Leitzordner, Kulturbeutel mit Aspirin – am Ende dann Kölnisch Wasser, Mercedes-Stern, Mainzelmännchen, Meister Propper. Und schließlich noch einmal bildhafte Aufklärung: Auf einer großen Tafel kleben Augen, Beine, Hände, Brüste, Haare, alle aus Kunststoff, Einlagen, Gebiss, Brillen – ein Ersatzteillager für den Menschen, denn er ist nicht nur Müllmann, sondern vor allem »Mängelwesen.« Der Nachmittag in Köln ist höchst amüsant und unterhaltsam, lehrreich auch, es bedeutet Anstrengung und Lust, diesem Wort-Artisten, seinen gewagten und gewitzten verbalen Attacken, seinem Rede-Marathon mit den vielen spannenden Vernetzungen zuzuhören, ihm auf dem Weg vom Hölzchen aufs Stöckchen, auf den Gedanken- Flügen in schwindelige Höhen zu folgen, selbst, wenn man nicht alles versteht, die schnellen Assoziationsketten nicht immer nachvollziehen kann – oder will.
Jürgen Johannes Hermann Brock wurde am 2. Juni 1936 in Stolp/Pommern, heute Polen, geboren. Sein »Grunderlebnis« ist der Krieg. Als Kind schleppte er Panzerfäuste, »wir wussten, dass russische Soldaten nicht auf Kinder schießen.« Mit drei Geschwistern und der Mutter gelang die Flucht auf hoher See übers Meer, danach das Internierungslager, »die Hölle«, in Dänemark. »Kein Kind unter vier Jahren hat dort überlebt.« Dänemark war für Brock eine Schule des Lebens: »Nur, wenn man alleine kämpft, kommt man durch«, so seine Erkenntnis, »und ich bin durchgekommen.« Bis heute, möchte man ergänzen. Die Brocks siedelten sich in Schleswig-Holstein an. Die Mutter wurde krank, die Kinder wuchsen in fremden Familien auf, Bazon Brock in »der Obhut eines Oberstudienrats«. Die Flüchtlings-Problematik – auch die war prägend. Was man zum Beispiel erlebt, sagt Brock, wenn man in der Fremde mit »einheimischen Töchtern anbandelt«. Resultat dieses Außenseiterlebens: Ab dem 14. Lebensjahr hat Brock »völlig allein« gelebt. In die Schulzeit fiel auch seine Namensänderung: »Bazon «, aus dem Griechischen bazein (schwätzen), der Schwätzer, ein Lehrer hat ihn so genannt. Brock belehrt mich in seinem gemieteten Wuppertaler Haus im Grünen allerdings, dass dieser »Beiname für Intellektuelle « mit »Schwätzer« ungenügend übersetzt sei – »Redner mit Überzeugungskraft« müsse es heißen. Schließlich sei das Reden vor Publikum auch eine »Sache mit Darstellungsbegabung.« Weshalb die guten Redner in der Antike auch »Verführer des Volkes« hießen. Sein Freund Hubert Burda hatte vor zehn Jahren in seiner Laudatio zum 60. Geburtstag die Redebegabung von Brock auf den Punkt gebracht: »auf die Leute peitschen«.
Nach dem Studium arbeitete Brock als Dramaturg in Darmstadt, Bern und Luzern, 1965 begann seine Lehrtätigkeit im Fach Ästhetik, zuerst in Hamburg, dann in Wien und Wuppertal. Er hat die »Besucherschulen « auf der documenta in Kassel erfunden und Aktionen mit Künstlern gemacht, »Happenings« genannt. Aber auch da wieder Belehrung: Ein Happening sei ein Ereignis. Mit Joseph Beuys sei das aber viel mehr gewesen: Ereignis mit Epiphanie, mit Erscheinung. Mit Beuys verband Brock ein »denkbar bestes Verhältnis«, und er hat vielfach mit ihm zusammengearbeitet. Die »Deutsche Studenten Partei « an der Kunstakademie Düsseldorf gegründet, in Aachen am 20. Juli 1964 eine der spektakulärsten Aktionen gemacht oder beim 24- Stunden-Happening 1965 in Wuppertal neben ihm, der stundenlang auf einer kleinen Kiste neben einem Stück Fett kauerte, auf dem Kopf gestanden – alle Ereignis-Erscheinungen sind in die Kunstgeschichte der 60er und 70er Jahre eingegangen. Allerdings, so Brock, müsse der Irrtum in den Köpfen vieler immer wieder korrigiert werden: Die »Fluxus-Krümel«, also die Relikte der Aktionen, seien keine Kunstwerke, auch, wenn sie im Museum lägen. Diese Relikte seien »abgelegtes Werkzeug«, das »Werk« ist (war) ein »konzeptioneller, spiritueller Akt«. Beuys habe das selbst durchaus so gesehen.
Dass der damalige Wissenschaftsminister Johannes Rau den Kunstprofessor Joseph Beuys aus der Kunstakademie wies, hindert Bazon Brock nicht, den späteren, kürzlich verstorbenen Bundespräsidenten als »einzigen Politiker, der überzeugt hat«, zu preisen. Als Gründer der Wuppertaler Universität habe Rau dafür gesorgt, dass einige Fächer wie Mathematik, Physik, Literaturwissenschaften hervorragend besetzt worden seien und erstklassig in der Welt da stünden. Natürlich auch das Fach Design: Rau hat Brock 1980 in diesen Fachbereich geholt.
Rau, anders als sein Nachfolger (»intellektuelle Null«), habe zudem große geistige Qualitäten gehabt, dabei überall die richtigen Worte gefunden, ob vor dem Universitätssenat oder im Altersheim. Hat Brock auch je im Altersheim geredet? Aber ja. Und wurde verstanden? Da ist er ganz sicher. Die Angst Hubert Burdas, dass Brock sein Publikum zuweilen überfordere – die ist ihm fremd. Oder anders: Er besteht darauf, dass er sein Publikum ernst nehme, ob in Museen, Theatern, Hochschulen, in einer Galerie, im Fernsehen oder eben Altersheim. Jedes Jahr hat Brock über 100 Veranstaltungen außerhalb der Universität absolviert, »ohne eine einzige Reisekostenabrechnung«. Und in der Uni hat er keine Vorlesung ausfallen lassen, noch vom OP-Tisch aus hat er gearbeitet.
Nur im direkten Frage- und Antwortspiel tut Brock sich nicht leicht. Ob er im schweren Ledersessel sitzt oder immer wieder aufsteht und hin und her schreitet: Er doziert. Das Wohnzimmer wird zum Hörsaal. Für Zwischenfragen bleibt kaum Platz. Und wenn, dann sind sie Anlass für weitere ausufernde Erklärungen. So reihen sich die Dinge aus seiner immer kritischen Sicht im Wohnzimmer-Seminar aneinander: die »Gespensterherrschaft von Konjunktur und Wirtschaft «; die Bankrotterklärung einer Gesellschaft ohne »humanen Gestaltungswillen «; eine »Verantwortungslosigkeit, wo man hinguckt«; ein Kapitalismus, der mit selbst hergestellten Gesetzen daherkommt, statt mit einer funktionierenden Rechtsordnung; Manager, die groteskerweise ihre Arbeiter entlassen und damit ihre eigenen Kunden verlieren; politische Korrektheitsfanatiker, die jede Kritik an einer gescheiterten Integrations- und Migrationspolitik diffamieren und damit auch ihn, Bazon Brock; Medien, allen voran der WDR, die sich »in ihren Funkhäusern wie in eine Festung total einmauern und dann von multikulturell und offenen Grenzen reden«. Für die Medien sei er, Brock, sowieso der »leibhaftige Buh-Mann.« Während er vor 20 Jahren noch in den großen Zeitungen und im Fernsehen präsent war, ist er heute nicht mehr gefragt. Auch in anderen Institutionen gibt es kaum Echo auf Bazon Brock – ja, darunter leidet er. Was will er weitergeben? Keine genetische, sondern eine kulturelle Vererbung, Schriften, Bücher mit seinem humanen Aufklärungskonzept, seinen Versuchen, das Leben, »bedroht und mit wenig schöner Aussicht«, auszuhalten, seiner Erkenntnis der Ohnmacht und des »Scheiterns von Absolutheitsansprüchen.« Hat er Angst vor dem Tod, den er so oft zitiert und anspricht in seiner Veranstaltungsreihe? Nein, nur vor dem Sterben. Und da er als Wissenschaftler Gott nur als »Denknotwendigkeit« sieht, nicht aber, wie ein Johannes Rau, an einen Gott und damit an ein Leben nach dem Tod glaubt, braucht er Freunde, »sonst hält man das nicht aus«. Freunde, das sind auch ehemalige Studenten, die jedes Jahr zum »fetten Ahnentreffen« (statt Veteranentreffen) zusammenkommen – Architekten, Museumsdirektoren, Journalisten, Agenturchefs, Ärzte sogar und Professoren (Brock: »da halte ich als Lehrer den Weltrekord«) sind sie geworden. Kein einziger Politiker.
Wie wird es weitergehen? Bis November will der »ungestüme, vormythologische, spätarchaische, prähellenistische Vogel Bazon Brock« (Hubert Burda) seine »Lust- und Gewaltmärsche« fortsetzen. Und das, obwohl die Kriegsfolgen ihn eingeholt haben. Phosphorsplitter ließen seine Gelenke anschwellen, die Schmerzmittel machen Magenprobleme, alle sportlichen Aktivitäten hat er eingestellt und damit sein Gewicht mächtig erhöht. Statt Sport nun Krankengymnastik, »ohne die könnte ich mich gar nicht mehr rühren«. Danach wird er weiter seine Wahrheiten nicht in akademischen Zirkeln, sondern im Umgang mit Kindern, Tieren, im Nachbarschaftsgerede, bei Marktfrauen, an Stammtischen und im Supermarkt erfahren. Er bleibt, was er immer war: links, human, liberal. Sein Motto heißt Carpe diem. Kein Tag ohne eine Zeile zu schreiben und hin und wieder mit etruskischem Lächeln davon zu träumen, wie er anno 1963 in Venedig bei den Filmfestspielen mit Monica Vitti die Hoteltreppen hinuntergeschritten ist. //_