Text: Andreas Wilink
In der Fernsehserie »Borgen« sehen wir, dass Dänemark ein sehr kleines Land ist. So klein, dass Regierung und Opposition, die Eliten und die Presse in ein Einfamilienhaus passen würden. Auch Olaf Johannessen spielte in einer Folge mit. Offenbar ist auch das heimatliche Schauspieler-Reservoir übersichtlich – andererseits ist Johannessen zuhause ein willkommener Star, nicht erst, seit er in der populären Krimiserie »Forbrydelsen« (»Kommissarin Lund«) den Ministerpräsidenten Kamper mit nicht zufälligen Ähnlichkeiten zu lebenden Politkern darstellte. Ebenso kennt man ihn durch seine Bühnenrollen.
Dänemark und Theater, da liegt eine Verbindung nahe: Hamlet. Den Prinzen hat Olaf Johannessen auch schon gespielt, 1992. Ebenfalls die andere skandinavische Paraderolle: Norwegens Nationalcharakter Peer Gynt. Den jedoch am Düsseldorfer Schauspielhaus. Man war zunächst überaus erstaunt, wie blendend Johannessens Deutsch war, etwas weicher moduliert, vorsichtiger, überlegter vielleicht, aber dadurch wie gedanklich durchgearbeitet. Johannessen als Peer – schmal, blass, angeschärft, kalt glühend seine Elementarteilchen sortierend und mit einer lachhaft rammelnden Libido – entsprach in seiner »Gier im Kopf« dem Michael Fassbender in Steve McQueens »Shame«. Peer als Zuschauer seines Lebens und behaftet mit den Ich-Schwächen des modernen Menschen. Ein Fremder von heute. Mit ihm hatte Staffan Holms Inszenierung einen akuten Mittelpunkt. Ein imponierender Auftritt. Jemand, der auf angenehme Weise kein Aufhebens von sich machte.
Das muss einmal anders gewesen sein. »Ich war ein merkwürdiger Mensch. Ich war zu viel«, sagt er über sein jüngeres Ich, als wir im Bochumer Schauspielhaus beieinander sitzen, wo er Gerhart Hauptmanns Drama »Rose Bernd« probt.
Die frühe Absonderlichkeit führt er auf seine Herkunft zurück. Nicht darauf, dass er aus einer Theaterfamilie stammt (Vater – Regisseur, Mutter – Schauspielerin) und die Phasen von Abwehr und Identifikation mit dem Beruf durchmachte. Sondern geografisch. »Mein Temperament stammt von den Faröer-Inseln«. Dort, zwischen Island und Skandinaviens Küste (nicht zu verwechseln mit dem schwedischen Farö, wo Ingmar Bergman einige Zeit lebte), wurde er 1961 geboren. Die Inselgruppe mit 50.000 Einwohnern ist weitgehend autonom, mit eigener Sprache, eigenem Parlament, allem Drum und Dran. Und einer »wilderen, offeneren, weniger reservierten« Art als die dänischen Brüder und Schwestern gegenüber.
Also von wegen »freudlos und neutral«, wie es über eine der Hauptfiguren in Michel Houellebecqs Roman »Karte und Gebiet« heißt. In der Bühnenfassung von Falk Richter hat Johannessen 2011 erstmals in Düsseldorf gespielt: die Kunstfigur »Houellebecq, den Baudelaire des Supermarkts« mit Rotweinglas und Parka als sympathische Selbstparodie in schön schlichter Virtuosität und süffig verschmitzter Spiellust.
Wo ist er also hin, der wilde junge Mann? Er habe sich »von zu viel hin zu wenig« entwickelt und zu Zeiten in Düsseldorf mit dem Kollegen und Freund Christoph Luser »oft über das Nicht-Spielen und Nichts-Tun auf der Bühne gesprochen, über das Echte und Lebendige« und wie es sich herstellt. Sich jedenfalls nicht ausstellt. »Vom Expressionismus zum Impressionismus«, nennt Johannessen diese Bewegung. Beide Male geht es um Ausdruck, nur unterschiedlich formuliert und aufgetragen.
2004 beschloss Johannessen, frei zu arbeiten: »Skuespilleren, der blev sat fri« (der Schauspieler, der freigesetzt wurde), titelte ein Zeitungsartikel über ihn. Er wollte nicht mehr Mitglied am Königlich Dänischen Theater in Kopenhagen sein, wo es ihm zu »altmodisch und langweilig« wurde. Seither, neu motiviert von »Lust und Neugierde«, hat er an die zehn Auszeichnungen erhalten, darunter eine Nominierung für den deutschen Theaterpreis »Faust« und die dänischen Film- und Theatertrophäen »Robert« und »Reumert«. Prämiert u.a. für zwei Rollen, die sich wiederum mit Deutschland verbinden: Hendrik Höfgen in Klaus Manns »Mephisto« und den SS-Obersturmbann-führer und Schreibtischtäter Adolf Eichmann.
Für den schillernden Karrieristen im Schatten der braunen Macht habe er im Spiel weit ausgeholt, ohne dabei zu brandauern, bei der »grauen Eminenz« Eichmann, dem Organisator des Judenmords, der auf der Wannseekonferenz beschlossen wurde, verbot sich derlei prunkende Gebärde. Zu Eichmanns banalem Wesen gehört, nicht viel herzumachen.
Johannessen musste das Phänomen des Peniblen und Alltäglichen ausforschen und ausformen.
Autor des Eichmann-Stücks »Gespräch vor dem Tod«, für das Johannessen 2014 zum Schauspieler des Jahres gekürt wurde, ist Adam Price, der auch der Drehbuchautor von »Borgen« ist. Dänemark, das kleine Land! Was auch etwas bedeutet für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. »In Dänemark und seiner Gesellschaft der flachen Hierarchien duzen sich alle, bis auf die Königin, zu der wird Sie gesagt«. Am Theater sagt man sowieso Du. In Bochum habe er sich mit Intendant Anselm Weber darüber unterhalten, dass es einen Unterschied macht, ob jemand Du oder Sie sagt, weil sich Person und Funktion, je nachdem, dann nicht mehr klar trennen ließen.
Was unterscheidet die Strukturen am Theater in beiden Ländern? Die in Deutschland sei »streng«, die in Dänemark »locker«, sagt Johannessen. Er nimmt deutsche Schauspieler als »fleißiger«, besser vorbereitet und sehr zuverlässig wahr. »Ich finde, man muss mit etwas zur Arbeit kommen.« Olaf Johannessen arbeitet erstmals als Gast am Bochumer Schauspielhaus. Die Kontaktstelle war Regisseur Roger Vontobel, bei dem er kürzlich in Kopenhagen den John Proctor in Arthur Millers »Hexenjagd« gespielt hat. Nun ist er Vontobels Christoph Flimm in Hauptmanns »Rose Bernd« – neben Jana Schulz in der Titelrolle.
Nimmt man die erwähnten Rollen – Höfgen, Eichmann, Proctor und Flamm, den unglücklich verheirateten Dorfschulzen, der sich in die junge Rose verliebt und nicht verhindert, dass sie in ihrer stummen Hilflosigkeit zur Totmacherin wird –, so eint sie ein Begriff: Verantwortung. Verleugnete, verratene, getragene und fahrlässig vernachlässigte Verantwortung. Wenn Johannessen Flamms Charakter beschreibt, sagt er Sätze wie: »Alles muss ein großes Fest sein. Flamm will raus, ins Freie, voller Sehnsucht nach Liebe und nach der Natur.«
Spürt man da nicht wieder das Ungebärdige der Faröer-Inseln!
Gerhart Hauptmann, »Rose Bernd«, Schauspielhaus Bochum, Premiere: 4. Oktober; Vorstellungen: 10., 18., 29. Oktober 2015.