Eine Begegnung mit Georgette Dee. Am Düsseldorfer Schauspielhaus spielt und singt die Diseuse in einem Stück über Oscar Wilde die Mutter des Dichters, den das viktorianische Zeitalter gefeiert und zerstört hat.
Ein Gespräch mit Georgette Dee ist wie ein Konzert von Georgette Dee. Nur ohne Lieder. Denn bei ihren Programmen sind die Lieder das eine. Das andere ist, was zwischen den Liedern liegt, wenn die Diva in Wellenbewegungen plaudert, Übergänge durch Umwege schafft, eine Geschichte nach der anderen wie Girlanden aufzieht und mit feinen Nadelstichen durch das Allgemeine und Besondere stichelt.
Souverän beglaubigt sie, wovon sie singt, wenn mit ihr der letzte Stern der Müden aufgeht, die Liebe eine Fatalität ist, das Leben sich um seiner selbst feiert und das ‚trotzdem’ sich zum Prinzip setzt. Wenn sie Einsamkeit und Herzweh, Leere und Angst aufruft, wie ein antiker Augur die »Großen weißen Vögel« ausdeutet und das vermeintlich Illegale des Fühlens ins Recht setzt. In Friedrich Holländers »Allein in einer großen Stadt« oder »Wenn ich mir was wünschen dürfte« scheint bei ihr hinter jeder Liedzeile, die endet, hinter jeder letzten Silbe, die sie dehnt, ein schwarzer Schleier noch einen Atemzug länger zu wehen. So zelebriert sie die kleinen Lieder, die aus den großen Schmerzen werden.
Aus philosophischer Höhe betrachtet, lassen sich zentrale Begriffe aus dem Denken von Gilles Deleuze anbringen, der vor genau 100 Jahren in Paris geboren wurde, wo der Exilant Oscar Wilde im Jahr 1900 starb. Begriffe, die in dem Dichter des »Dorian Gray« Gestalt angenommen haben: Selbsterfindung, Normüberschreitung, Abweichung. Dieser Dreiklang ist ebenso auf Georgette Dee anzuwenden.
Vorbild Piaf
Sie lacht. »Zu der Sekte könnte ich gehören. Andererseits, ich fühle mich mit meinen Lebens-Mottos etwas aus der Zeit gefallen. Das Wilde, das Jugend und Blüte begleitet, ist nicht mehr en vogue. Dabei sind mit 20 die Hormone doch immer auf Sturm gestellt. Aber heute ist man da schon so erwachsen, politisch korrekt und dadurch nicht selten langweilig.« Von dieser Erfahrung erzählt sie am Beispiel der Studierenden der Münchner Falckenberg-Schule, wo sie seit langem den dritten Schauspiel-Jahrgang in »Liedern und Geschichten« unterrichtet: »Ich bringe sie ganz dicht zu sich selber. Wenn sie es zulassen, führe ich sie auf kleine Gipfel, aber mit ihnen selbst, nicht auf Ansage. Um was geht es schließlich immer! Um einen Menschen auf der Bühne, der uns eine Geschichte erzählt. Der kann grün oder blau kariert oder fünfgeschlechtlich sein, das ist unwichtig.«
Ihr Geschichten-Erzählen auf der Bühne sei mit der Zeit gewachsen. »Die ersten zehn Jahre habe ich mir die Mühe gemacht und alles aufgeschrieben, was ich zwischen meinen Songs sagen wollte, das hat mich total gestresst, weil ich ganz schlecht im Text-Lernen bin. Und hat viel Energie auf der Bühne gekostet, mich zu erinnern. Ich habe begonnen zu erzählen, habe abgebrochen usw. Bis ein Intendant, den ich sehr schätze, zu mir sagte, ‚Wenn Du was anfängst, mach es zu Ende.’ Das wurde ein Schlüsselsatz für mich. Daran habe ich mich gehalten. Langsam bekam ich ein Gefühl für Dramaturgie und lernte, mich selbst zu kommentieren.«
Das nennt man Souveränität. »Jedenfalls war ich immer sehr schnell. Heutzutage habe ich auf einem Zettel vielleicht zehn Wort stehen – die brauche ich dann aber auch.« Gab es Identifikationsfiguren – und wann sind sie in Georgette Dees Wahrnehmung aufgetaucht? »Piaf. Als ich sie mit sieben Jahren im Radio hörte, war das mein erster Flash. Ich habe nicht gedacht: ‚Wer ist das?’, sondern: ‚Das will ich auch’. Dann ist man irgendwann über Zarah Leander gestolpert, obwohl sie nicht Idol-Charakter für mich besaß, es war eher, wie bei Alexandra, die Stimme, das Timbre. Sehr inspirierend waren für mich Callas und Janis Joplin. So unterschiedlich sie scheinen. Das für mich Gemeinsame ist das Unausweichliche: Sie konnten nicht anders. Auch Hans Albers gehört für mich dazu, der alles veredelt hat, noch den blödesten Text. Kurzum: Ich war immer Bühne. Ich muss da raus. Die Bühne hat eine andere Zeit. Film und Fernsehen dagegen haben mich nie interessiert: für mich selbst. Wenn für mich die Bühne nicht mehr sein kann, würde es mit mir nicht mehr lange gehen.«
Wenn Georgette Dee als Gast auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses stehen und die Mutter von Oscar Wilde darstellen wird, spielt sie eine Rolle, selbstverständlich. Im Grunde aber eine Doppelrolle, nämlich auch diejenige der Kunstfigur Georgette Dee, in die hinein sich die in der Lüneburger Heide geborene, in Berlin lebende Sängerin, Interpretin und Autorin verkörpert hat. Sie, die Heroine der raren Spezies Diseuse in der Tradition von Künstlerinnen wie Blandine Ebinger und Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Hanne Wieder oder Ingrid Caven.

Erinnert sie sich an den ersten Kontakt mit Wildes Biografie und Werk? Es sei Anfang der 1980er Jahre in Mannheim in einem Kabarett-Brettl, der »Klapsmühl’ am Rathaus«, gewesen, wo sie zu Fünft die »Salome« inszeniert hätten. »Alles Männer, bis auf Jochanaan, der war weiblich besetzt. Auch wenn ich das damals noch nicht vertieft habe, er war immer für mich ein Stern am Himmel.«
Der Schritt auf die Bühne als der magische Moment der Verwandlung und Vergrößerung und Übertritt in eine andere Wesenheit. Das vollendet zu tun, ist die Kunst – das Artifizielle und das Authentische zu verbinden. Was heißt für Georgette Dee, authentisch zu sein? »Wie man ist und wie man sein möchte, das sind unterschiedliche Räume der Freiheit. Freiheit zu sein, wie man ist – für mich ist das viel wichtiger. Dass man sich nicht verbiegt. Hingegen so zu leben, wie es der eigene Traum sich vorstellt, da frage ich mich, wenn ich mir einige Freunde anschaue oder einige meiner Studenten, die Geld oder Karriere machen wollen, ob dieser Traum und seine Verwirklichung sich gelohnt haben? Ich kann nur warnen: Die Preisliste dafür wird nachgereicht, die kriegst Du nicht vorweg. Die Freiheit zu sein, wie man ist, ist anders, weil es keine abgeschlossene Geschichte betrifft, weil die eigenen Ansprüche, Bedingungen und Grenzen sich ändern. Open end. So wie jetzt für mich: alt, krank, begrenzt in der Zeit. Würde ich mich damit nicht auseinandersetzen, verlöre ich etwas von meiner Souveränität.« Wieder dieser Begriff, der ihre Lebens-Kunst beschreibt.
Sein oder Nichtsein
Als junger Mensch von Anfang 20 (»frühreif, hochbegabt und ungefördert«) auf eigene Weise Ich zu sagen, sein Ich für sich herzustellen und umzusetzen, das ist ein gigantisches Programm. Oder? »Ach, nein, ich habe nicht groß darüber nachgedacht – sowieso war ich damals schon größenwahnsinnig. War David, Scheiß auf Goliath. Wer hat denn hier die Steinschleuder! War furchtlos gegenüber Strukturen und Mustern. Und familiär gab es keine bürgerliche Scheu, wohl ein christliches Korsett, aber wenn man das dann abwirft… In diesem Kampf kommt einem das Schwul-Sein sehr entgegen: Man ist, was man ist. Verflucht oder nicht. Also Flucht nach vorn. Abgekämpft habe ich mich eher mit der Travestie-Einordnung, in diese Schublade gehörte ich nie.«
Georgette Dee hat das Genre Diseuse neu kreiert. »Ich habe, instinktiv mehr als intellektuell, die Klischees, sozialen Codes und Regeln für mich genutzt. Eine singende Frau wird anders wahrgenommen, als ein singender Mann. Dafür brauchte ich keine Federboa, keinen Strass, keine langen Wimpern etc. Das war nicht meins. Stattdessen: ein Mensch im Kleid. Schlichte Fichte. Aber genau das haben manche als bedrohlich und noch provokanter empfunden. Das nervt mich auch an Filmen wie ‚La Cage aux Folles’, das niedliche, lustige, clowneske. Aber nie wird erzählt, dass es für diese Menschen um Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein geht. Es beleidigt die, die zwischen Schwarz und Weiß leben.«
Georgette Dee hat (sich) eine ikonische Figur geschaffen: Zigarette, Drink, Mikrofon, das schwarze Kleid, die helle Lohe des Haars. Dabei sei ihr wichtig gewesen, sich immer wieder neu und anders zu erfinden. »Weil man sich auch langweilt mit dem eigenen Kram. Dass am Schluss immer wieder dasselbe dabei herauskommt, ist ein anderes Thema«, sagt sie lachend.
Gelohnt werde ihr all das mit »Ehrerbietung«, gerade in der Theaterwelt und in der Darstellenden Kunst. Auch darüber hinaus. Verbeugung vor Miss Liberty. Was Sie im Kleid singt, meint sie, hätte sie in Anzug und Hose nicht singen können. Im Kleid sei es gefahrloser. Ich frage, ob nicht auch entwaffnender? »Ja. Auch wenn ich durch offene Türen gelaufen bin; es gab auch andere im Saal, die für meine Erscheinung kein Muster, keine erlernte Technik hatten, um damit umzugehen. Und es gab die Schüchternen, die durch mich Mut bekamen.«
Nach schwerer Krankheit gilt für sie: »Ich leb’ auf Pump.« Die Zigarette hält sie seit zehn Jahren nicht mehr in der Hand, das Glas in der anderen ist geblieben – auf der Bühne. »Der Verlust war nicht schlimm für mich, eher für die Leute, das Publikum hat gemeckert, dass das Attribut fehlt.« Fehlt ihr die Zigarette nicht, als Halt, als Ausdrucksform? »Ach, letzten Endes findet alles im Kopf statt. Das ist ein banales Geheimnis. An- und abgestellt wird zunächst dort oben drin.« Überhaupt gibt sie zu Protokoll: »Bislang habe ich meine Kämpfe immer gewonnen.«
Als Lady Wilde sagt sie: »Das Leben ist Qual und Hoffnung, Illusion und Verzweiflung zugleich, doch am Ende bleibt nur die Verzweiflung«. Das wäre nicht ihre Schlussfolgerung und Bilanz. »Das ist etwas kassandrisch, auch berührend«, sei ohnehin eine Traumsequenz im Stück und Zitat aus einem Brief der Mutter. Vielleicht ließe sich das noch ändern. Sie wolle darüber reden mit ihrem Regisseur André Kaczmarczyk, den zu loben sie nicht spart. »Meine Konklusion wäre eher: Illusion. Das ist etwas größer gedacht, das kann jeder für sich zurecht biegen.«
Zur Person
Georgette Dee, geboren 1958 in Sülze; lernte 1981 in London den Pianisten Terry Truck kennen, seit 2001 arbeiten die beiden bei längerer Unterbrechung zusammen. Sie hat an die 40 eigenen Bühnenprogramme, hinzu kommen zahllose Konzerte, Tourneen, Auftritte in großen Theatern in Berlin, Wien oder Paris – und am 27. Januar 2023 im Deutschen Bundestag.
»Die Märchen des Oscar Wilde erzählt im Zuchthaus zu Reading«
Premiere: 8. März, Termine: 25. März, 4. und 20. April
Konzert, Savoy Theater, Düsseldorf: 28. März