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Nach zwei Jahren unter Anselm Weber hat sich das Schauspiel Essen profiliert, indem es sich mit einem klar erkennbaren Programm auf seine Stadt und deren spezifische Themen bezieht und mit einem jungen Team, darunter der Regisseur David Bösch, antritt. Nach seiner ersten Saison hatte das Haus sich bereits den Titel »Bestes Theater in NRW« erobert. Weber habe, wie er im Folgenden sagen wird, den Begriff Stadttheater neu mit Sinn besetzt. Eine Gesprächsrunde mit Weber und den Intendanten-Kollegen aus Bochum (Goerden), Düsseldorf (Niermeyer), Köln (Günther) und Wuppertal (Kuck) vor einigen Wochen – erfolgt auf Einladung der »Welt am Sonntag« und unter Beteiligung von Andreas Wilink auf journalistischer Seite – diskutierte den Status quo der hiesigen Bühnen – auch die Frage nach der oftmals unbefriedigenden künstlerischen Qualität, plakativ auf den Begriff »Metropolentheater« gebracht, sowie das mangelnde Selbstbewusstsein des Landes. Gegenüber der RuhrTriennale erhob sich der Vorwurf fehlenden Kooperations-Willens und, angesichts des Festival-Herbsttermins, die Sorge um Publikums-Verluste der eigenen Häuser. Dies wiederum veranlasste Triennale-Intendant Jürgen Flimm, in einem Offenen Brief »derlei Gesänge« zurückzuweisen und namentlich an Weber zurück zu adressieren. Emphatisch betont er den Metropolen-Charakter: »Es gibt keine größere Stadt als das Ruhrgebiet«. Überlegungen zur Selbstdefinition und Einordnung in größere Zusammenhänge von Stadt, Region und Land erhalten durch die Vorbereitungen auf die Kulturhauptstadt 2010 weiteres Gewicht.
Ulrich Deuter und Andreas Wilink haben bei Anselm Weber, dessen Vertrag soeben bis 2013 verlängert wurde, nachgefragt.
K.WEST: Fühlen Sie sich durch die Festivals, namentlich die Ruhr-Triennale als Luxusliner des Landes, bedrängt?
WEBER: Ich kann das relativ frei beschreiben, weil ich das kleinste Haus im Vergleich zu Bochum, Düsseldorf oder Köln leite und das kleinste Budget habe. Und es von allen am unangestrengtesten sehe. Deshalb wundert mich auch Jürgen Flimms Reaktion. Keiner von uns Intendanten behauptet, die Triennale soll es nicht geben. Das ist Blödsinn. Sondern es geht darum, wie sich die Dinge zueinander beziehen und miteinander verflechten. Und da vermisse ich gewachsene Strukturen – Stichwort mangelndes Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein hat mit Entwicklung zu tun; wenn man aus Bayern kommt, spürt man das noch mal anders. Dort wird es, überspitzt formuliert, von Generation zu Generation weitergegeben. Ähnlich wie in Hamburg. Die Hamburger Bürgerschaft käme auch nicht auf die Idee, sich selbst in Frage zu stellen.
K.WEST: Wie stehen Sie nun zur Konkurrenz durch die Triennale?
WEBER: Natürlich gibt es eine Konkurrenz. Auch wenn wir in Essen feststellen, dass wir mehr Zuschauer haben als früher. Aber auf das Motto, Angebot belebt den Markt, das Flimm ausruft, antworten wir, dass der Markt irgendwann mal erschöpft ist. Und Kulturtourismus gibt es in dem Maße in der Region – noch – nicht, anders als in Berlin. Es fahren doch keine Busse von sonst wo ans Grillo Theater, weil sie denken, nur hier passiert’s. Am Aalto gelingt das mit der einen oder anderen Oper.
K.WEST: Sie müssen mit der Triennale leben, welche Vorschläge würden Sie machen, wie wäre Ihre Vision?
WEBER: Soweit ich informiert bin, erhält die Triennale in drei Jahren 38,5 Millionen Euro. Der Etat der Kulturhauptstadt beträgt 48 Millionen Euro. Nicht viel angesichts dessen, was alles abgedeckt werden muss. Meine Vision wäre der Versuch – etwas, was ich ständig tue –, Vernetzungen herzustellen. Das scheint mir das Interessanteste. Wir tun das mit der Folkwang-Hochschule und anderen Häusern der Region, haben es auch mit Flimm versucht.
K.WEST: Der gibt aber den Schwarzen Peter an Sie zurück, und sagt, Sie hätten für den richtigen Stoff den falschen Mann beauftragt, für ein gemeinsames »Tristan«-Projekt von Armin Petras und der hätte es nicht gebacken bekommen.
WEBER: Ich werde jetzt nicht öffentlich zurückhauen!
K.WEST: Aber wenn Flimm doch einen Brief schreibt! Und Sie nennt!
WEBER: Fakt ist, ich bin hingegangen und habe ihm Namen vorgeschlagen, mehrere, und gefragt: Hast Du Lust, mit denen was zu machen? Ursprünglich hatten wir zwei Projekte verabredet, das ist richtig, darauf hat Flimm eine Wahl getroffen. Das war Armin Petras mit »Tristan«, weil ihn das total begeistert hat. Dann hat Petras alias Fritz Kater, der sich zuvor die Hallen hier angeguckt hatte, ein Stück geschrieben, worüber es eine gemeinsame Verabredung gab, bei der die Triennale federführend gewesen ist, und dieses Stück hat man dort abgelehnt.
K.WEST: Mit richtigen oder falschen Argumenten?
WEBER: Darüber gab es keine Diskussion mehr, es wurde nur einfach abgelehnt, ohne Gespräch, per Fax. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als es für uns ein stehendes Projekt war, fest geplant. Die Frage ist doch, macht es Sinn, dass dieses Festival sich anders verankert in der Region oder macht es keinen Sinn, das muss man mal trennen von persönlicher Eitelkeit. Man hat es geschafft, das Festival in die Hallen reinzukriegen und mit der Region zu verzahnen. Wenn man terminlich derart ins Zentrum rückt, und die Triennale nicht im Sommer, sondern im Herbst stattfinden lässt, also in der klassischen Theaterzeit des Saison-Beginns, drängt sich unabhängig von meiner Person eine Frage auf: Inwieweit das Geld auch anderen Theatern oder Opern, also Institutionen vor Ort helfen sollte, Dinge in einer Qualität zu produzieren, die sie sonst nicht produzieren können.
K.WEST: Wie könnte das Verhältnis zwischen der Triennale und den Stadttheatern idealerweise aussehen?
WEBER: Das sind immer inhaltliche Fragen. Ein Beispiel ist das Projekt Kulturhauptstadt-»Odyssee«, an dem sich alle Stadttheater gemeinsam beteiligen. Ob das gelingt oder nicht, werden wir sehen. Wenn ich 100.000 Euro habe und kann damit ein besonderes Projekt starten, das geht irgendwann in meinen Spielplan über als Teil des Repertoires, erzeugt das Nachhaltigkeit, die ansonsten nicht gegeben ist. Das klappt jedoch nur, wenn man zusammen denkt und lenkt.
K.WEST: Wen wünschen Sie sich denn als Triennale-Nachfolger?
WEBER: (Langes Schweigen) Ich würde das nicht an Menschen festmachen. Da bin ich vorsichtig, weil einen das gleich in eine komische Ecke drängt. Ich würde mir wirklich wünschen, dass man über das, was ich versuche zu beschreiben, wertfrei und uneitel diskutiert. Also ob ein Festival, nennen wir es ruhig so, auch etwas Strukturhilfe für Theater leistet.
K.WEST: Das hört sich wie Gießkanne an. Strukturhilfe für die Theater qua RuhrTriennale?
WEBER: Ich weiß, dass ich mich da auf gefährlichem Terrain bewege. Schauen Sie, immer wenn ich Diskussionen führe, werde ich mit dem Argument der Nachhaltigkeit konfrontiert. Ich höre es von Ihnen im Sinne von künstlerischer Nachhaltigkeit. Von der Politik im Sinne von: Was kann Kultur, bildungstechnisch? Ich kann nur immer wieder betonen, dass eine gewisse Form der Nachhaltigkeit, also Dinge konstant weiterzuführen, nur möglich ist, wenn ich finanziell, logistisch und künstlerisch Stück für Stück etwas aufbauen kann. So entsteht Erfolg und Reputation. Klar ist das dann Strukturhilfe, auch wenn ich es etwas anders meine. Bestimmte Projekte, ob »Duismülsen« oder »Glaube Liebe Hoffnung« oder »Stadt Wald Welt« usw., in denen unser Theater übers Ruhrgebiet nachdenkt, ließen sich mit einem entsprechend großen Partner noch mal auf eine andere wahrnehmbarere Stufe heben. Architektonisch wurde das doch auch gemacht. Die maroden Hallen wurden für viel Geld aufgebaut. Jetzt spielt Barenboim darin – auch eine Form von Nachhaltigkeit. Plötzlich ist da ein Zentrum, hat Kultur einen Ort geschaffen. Man ist sogar Weltkulturerbe. Was mich aber beschäftigt, ist die Idee hinter dem Vorgang: Was will die RuhrTriennale eigentlich leisten, außer dass sie ein Festival ist? Wohin führt das? Ich sehe da eher kurzfristiges Denken am Werk.
K.WEST: Sie meinen aber nicht ketzerisch, man sollte das Geld der RuhrTriennale besser auf die Stadttheater des Reviers verteilen?
WEBER: Nein, das meine ich nicht.
K.WEST: Als wir vor zweieinhalb Jahren zusammensaßen, sagten Sie vor Beginn Ihrer Intendanz, es ließe sich erst vor der dritten Spielzeit sagen, ob etwas gescheitert sei oder angenommen werde. Und Sie sagten, nirgends stehe geschrieben, dass Bochum die Zentrale des Ruhrgebiets sein müsse. Nun wird Essen Kulturhauptstadt und Sie leiten das NRW-Theater der Saison. Fühlen Sie sich als Prophet – und Platzhirsch?
WEBER: Als Prophet meiner eigenen Worte fühle ich mich schon. Als Platzhirsch, nein – diese Attitüde kann ich mir gar nicht leisten. Dazu ist unser Erfolg zu solide und schlicht das Produkt von Fleiß und Arbeit. Wenn man sich anschaut, was wir neben dem Eigentlichen alles machen, Dinge, die über Jahre hinweg vorbereitet werden und nicht zufällig entstehen – egal, ob die dann jeder mag oder für profund hält; und wenn man sich anguckt, mit welchem Etat wir das machen, dann geht das nur mit Planung und Disziplin.
K.WEST: Wie hoch ist der Etat?
WEBER: Der künstlerische Etat liegt bei 3,5 Millionen Euro. Wobei wir davon über 500.000 selber einnehmen müssen, eine Summe, die noch einmal erhöht wurde, sodass wir jetzt knapp 700.000 einnehmen müssen. Was wir auch schaffen werden.
K.WEST: Ist denn der reiche Mann am Ort, die RAG mit Werner Müller, auch großzügiger Spender fürs Schauspiel Essen?
WEBER: Gar nicht. Die eigentlichen Platzhirsche sind die Kollegen Soltesz oder Kaufmann. Das meine ich gar nicht negativ. Der repräsentative Teil in der Wahrnehmung der Stadt findet im Aalto und im Saalbau statt. Die RAG fördert halt gern Veranstaltungen mit weithin ausstrahlendem Renommee. Marktwirtschaftlich, werbetechnisch gesprochen sind wir ein uninteressanter Partner, als kleines Stadttheater. Die Leute, die uns unterstützen, tun es aus einem mittelständischen, lokalen Interesse heraus, wie die National-Bank und die Sparkasse. Unsere Versuche, solche Großen für Projekte wie »Homestories«, Altenclub, Stadterkundung zu gewinnen, die das Stichwort Sozialarbeit umschreibt, sind schwierig. Das finanzieren wir alles fast nur über Stiftungsgelder, von der Kunststiftung NRW oder dem Bund.
K.WEST: Wie würden Sie denn das Verhältnis der Stadt zum Grillo-Theater beschreiben, welche Erwartungen hat man an Sie, was sollen Sie leisten, auch im Vergleich zum Aalto-Theater, zur Philharmonie?
WEBER: Ich glaube, dass die Erwartungshaltung relativ gering war. Für die meisten hatte mein Vorgänger Jürgen Bosse das optimale Theater gemacht. Es war in der Stadt auch zahlenmäßig absolut erfolgreich, hat das Haus nach Heyme stabilisiert. Die Grunderwartung war gespannt, aber skeptisch. Beim Phänomen der ersten Spielzeit haben sehr unterschiedliche Faktoren eine Rolle gespielt. Einer, dass Modernität etwas ist, was nicht unsinnlich sein muss. Das war nach Heyme die große Angst. Es hatte auch etwas mit Schauspielern zu tun. Dann hat uns keiner zugetraut, dass wir mit demselben Etat den Output um ein Drittel erhöhen. Im Haus selbst entscheidend war »Homestories«, weil hier viele Mitarbeiter aus Essen kommen und in Katernberg groß geworden sind. Es gab die Sorge, dass wieder einer von außen kommt und sagt, der Pott kocht und ihnen erklärt, wie es geht. Als man merkte, dass wir das mit den Jugendlichen ernst meinen, sie abgeholt und mit ihnen gearbeitet haben, gab es einen Riesenumschwung in der Technik-Abteilung. Gut, wenn die Zahlen nicht so extrem gut gewesen wären, weiß ich nicht, was passiert wäre.
K.WEST: Wie lauten denn die Zahlen?
WEBER: Bei ca. 700 Vorstellungen hatten wir in der letzten Spielzeit 90.000 Zuschauer. Damit lag die Auslastung bei circa 80 Prozent. Dieses Jahr werden wir die Besucherzahl durch Gastspiele auf 100.000 steigern.
K.WEST: Anderswo, etwa in Düsseldorf, wird ebenfalls versucht, in Inszenierungen die Stadt zum Thema zu machen, ohne dass es recht gelänge. Gerade dass solch ein Theater in Essen ankommt, ist bemerkenswert, wenn man den Stil des Vorgängers danebenhält. Hat der Wechsel nicht anfangs zu großen Verwerfungen geführt?
WEBER: Klar gab es Verwerfungen, nicht nur einigen Kritikern hat David Böschs »Sommernachtstraum« nicht gefallen. Auch einer Menge Leute, die mir rieten, mir meine Abonnenten gefälligst in Katernberg zu suchen. Aber dass es doch klappte, hat eben mit dem Eindruck zu tun, dass wir es ernst meinen. Wir haben uns sehr bemüht, uns zu erklären. Anfangs saßen auf Symposien, die wir ausgerichtet hatten, zehn Leute, später hundert. Plötzlich kamen Leute ins Theater, die vorher noch nie da gewesen waren, Städtebauer, Sozialarbeiter, die merkten, es gibt so etwas wie eine intellektuelle Mitte. Ich habe stets betont, dass wir eine Art geistiges Zentrum für die Stadt bilden müssen. Seit wir immer sagen: Stadttheater! Sagen plötzlich alle anderen auch Stadttheater, machen alle nur noch Theater für die Stadt. Schon erstaunlich. Wir haben nicht das Theater neu erfunden. Aber den Gedanken neu gesetzt, zu sagen, wir gehen in diese Stadt in dieser Region und machen mit diesen Leuten für diese Leute Theater. Da war und ist die Identität jetzt so eng, dass niemand dazwischen kann. Wenn Sie es schaffen, dem Publikum das Gefühl zu geben, dass man es nicht erziehen will, nicht arrogant behandelt, funktioniert das.
K.WEST: Es sind im Grillo jetzt jüngere Gesichter zu sehen, und mehr von denjenigen, die man sonst eher in Bochum antrifft.
WEBER: Das haben Gott sei Dank Sie gesagt. Die »Szene« ist nicht mehr in Bochum, sondern hier.
K.WEST: Haben die Theater hier, im Revier und in NRW, eine grundsätzlich andere Funktion als in den Metropolen, also in Berlin, Hamburg, München? Wäre das Ausdifferenzieren, das Besetzen von Nischen – auch das Schlosstheater Moers versucht das mit Erfolg – der Weg der Zukunft fürs Stadttheater und könnte der damit auch über Essens Grenzen hinaus gültig sein?
WEBER: Klar, man muss nur immer überlegen, was die Stadt ist. Da komme ich wieder auf die Nachhaltigkeit. Sie müssen es über den Premierenabend hinaus schaffen, dass das Theater zu dem Platzhirsch wird, von dem Sie gesprochen haben, der Ort, an dem gewisse Institutionen der Stadt nicht mehr vorbeikommen. Es bedarf allerdings zuerst einer Analyse über den Ort. Da begreife ich mich eher als Suchender, als Reisender, als Archäologe, der wie auf einer Expedition einen Ort entdeckt und in der Entdeckung beschreibt. Noch etwas gehört zur Nachhaltigkeit. Ensembles bauen sich nicht über Nacht auf. Und Sie machen einen Ort auch nicht über Nacht für ein Ensemble erotisch.
K.WEST: Die Erotik eines Ortes hat auch damit zu tun, wie und auf welchem Niveau über den Ort berichtet wird, wie er sich vermittelt. Berlin ist halt »sexy«…
WEBER: Ein interessantes Phänomen, da sind wir wieder beim Begriff der Metropole – was daran erlebte Realität oder virtuell ist. Berlin ist doch nur teilweise echt. Es wird auch erfunden. Eigentlich müsste für 2010 eine Qualitäts-Zeitung her, die an der Kulturhauptstadt mitschreibt. Metropolencharakter multipliziert sich nur medial. Damit es anfängt, zu glitzern und zu strahlen, müssen Sie ein Bild kreieren und verbreiten. //