Hinter der geschlossenen Tür zur Probebühne ist etwas im Gange. Es scheppert und rumort. Beim Eintritt zeigt sich eine komplett eingerichtete Küche, schäbig und ramponiert: mit Arbeitsflächen, sich stapelnden Töpfen, vielerlei Gerätschaften, einer hölzernen Doppeltür, die in ihren Angeln zu ächzen scheint, in einem Winkel ein Wandbord mit Büchern, Kofferradio und golden glänzendem Kruzifix. Ein konkreter Lebensraum, doch zugleich die Idee von ihm als abstrahierende Installation. Das ist der Johan Simons-Stil, bei dem das Artifizielle mehr Realismus behaupten und den Kunstraum bezeichnen kann, als plane Abbilder von Wirklichkeit es vermöchten.
Simons probt Dostojewskis »Brüder Karamasow«, den gewaltigen und gewalttätigen Roman, der in eine siebenstündige Aufführung gefasst sein wird, die zu Teilen sowohl auf der Großen Bühne des Bochumer Schauspielhauses wie in den Kammerspielen und im Foyer stattfindet. Geprobt wird eine Szene zwischen den Brüdern Ivan, Dimitrij und Aljoscha, später kommt der Vater Fjodor, der ermordet werden wird, dazu (die Frage nach dem Täter macht aus dem Werk auch eine kriminalistische Recherche). Geradezu greifbar wird in Spielmomenten die psychologische Tiefenbohrung: Was motiviert und quält die Männer, wie bildet sich Spannung, die sich allein schon durch die Positionierung auf dem Planquadrat Bühne ergibt? Das Herantasten an die Figuren und ihre Beziehungen zueinander, das Reflektieren, Finden und Erfinden ist vielleicht kein vorrangig intellektueller Vorgang, sondern ein körperlicher: Wie sich die Darsteller im Raum verhalten, wie sie zueinander stehen, sich den Zuschauenden präsentieren. Das Denken bewegt hier buchstäblich.
»Der Text ist für mich etwas Körperliches«, sagt Johan Simons im Anschluss, als wir uns gegenübersitzen und er seinen wohlwollend prüfenden Blick auf den Fragenden richtet. Zu Beginn der Arbeit würde das Ensemble mit ihm lange am Tisch lesen, so würden sich Gedankenfelder eröffnen, »auch wenn die Form noch nicht da ist«. Schon da begännen die Schauspieler zu spielen, bildeten sich Ideen heraus, Material, das dann während der Proben angeboten werde. »Ich spiele auch manchmal mit«, sagt er, und »versuche die Quintessenz der Figur zu erfassen«. Das habe auch mit seiner Geschichte als Tänzer, seinem ersten Berufswunsch, zu tun, als der er in seiner Jugend in die Kunstwelt eingetreten ist.
Die Kunst des Moments
Die Brüder repräsentieren, um es sehr verknappt darzustellen, drei Prinzipien: Ivan (Steven Scharf) den scharf gestellten Intellekt, Dimitrij (Victor IJdens) Leidenschaft und obsessive Lust, der jüngste Aljoscha (Dominik Dos-Reis) geistige Reinheit und Glaubenstiefe. Simons nennt Dimitrij als Beispiel, wie sich in ihm Lebenslust und Lebensangst bis zum Zerreißen spannen. Der klassische, vom Franzosen Blaise Pascal aufgenommene philosophische Gedanke, dass die Extreme sich berühren, ist für die Beschäftigung mit Dostojewski ein elektrisierender Impuls. Unbedingt auch, wirft Johan Simons ein, bei der erotischen, vitalen Gruschenka, gespielt von Anne Rietmeijer. Eine Figur, »kaum greifbar: Ich mache sie zu einem Phänomen, bis in die Vergrößerung der Proportion und Dimension«, etwa auch, das verrät Simons, durch die musikalische Kommentierung und Instrumentierung mit einer Passage aus Schostakowitschs vierter Sinfonie.
Der Regisseur sieht und hört genauer als andere, ist geduldiger, fordernder, forschender, stützender, motivierender. Simons sagt: »Benutze deine Nerven.« Simons sagt: »Konfrontiere dich mit deiner Angst.« Simons weiß, die Schauspieler, die er liebt und mit denen er kontinuierlich arbeitet, besitzen »Intuition als das tiefere Wissen«. Wo Handwerk, Technik, Professionalität und auch Talent enden, beginnt – ohne magisches Denken beschwören zu wollen – das Mysterium. »Schauspiel ist die Kunst des Moments«, einmalig und doch wiederholbar, jeden Abend anders.
Es kann von Vorteil sein, nicht Deutscher zu sein, sondern wie Simons aus den Niederlanden zu stammen, wenn man sich im zweiten Jahr des europäischen Krieges von Putins Russland gegen die Ukraine mit russischer Literatur beschäftigt: National- und Weltliteratur gleichermaßen. Die Sonderbeziehung zwischen Deutschland und Russland mit ihren historischen Wurzeln, ihren furchtbaren Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert und politischen Wirkungen, Erblasten und Fehleinschätzungen bis in die akute Gegenwart hat auch zu tun mit dem zeitweilig gemeinsamen Paria-Status und der Abgrenzung von der liberalen und libertinären, positivistischen, gottlosen Gesellschaftsentwicklung der Moderne. Simons nimmt da sein Geburtsland als entlastend wahr, kann sich gewissermaßen an der ungetrübten »Inspirationsquelle« Dostojewski laben. »Karamasow«, der letzte Roman im Todesjahr 1881 erschienen, sei »getränkt von Lebenserfahrung«. Er, der 77-Jährige, sagt mit Blick auf seine vierte Beschäftigung mit einem Stoff Dostojewskis: »Ich komme hier auch bei meinem eigenen Leben an«.
Er habe sich übrigens in der fantastischen, gefeierten Dostojewski-Übersetzerin Svetlana Geier wiedererkannt, die, geboren in Kiew, das Deutsche als Fremdsprache gelernt und zu Höhen geführt habe und – wie er als Holländer nicht anders, wenn er Deutsch spricht – gerade deshalb Worten, Begriffen, Redewendungen, Sprachbildern einen unerhörten Bedeutungsklang und Sinn schenken kann.
Der neue Mensch
»Dostojewski – mit Maßen« empfahl Thomas Mann im Jahr 1946 in einem Aufsatz, um darin seine scheu-erschrockene Bewunderung für das »tiefe, verbrecherische Heiligenantlitz« des Schriftstellers und »Vertrauten der Hölle« darzulegen. Literatur als Theologie. Wie fühlt sich der Protestant Simons damit, der sein Paradox zu Protokoll gibt: »Die große Strafe Gottes ist, dass er oder sie nicht existiert«. Nun, vielleicht gerate das Diktum ins Wanken. Ihn beschäftige die christlich-orthodoxe Glaubenslehre, wonach Gott und Teufel in einer Dualität zueinander stünden und nicht strikt geschieden seien wie Himmel und Hölle. »Das kratzt sehr an mir«, sagt er, nicht zuletzt angesichts heutiger Naturkatastrophen und apokalyptischer globaler Szenarien, die, so Simons, der biblischen Offenbarung des Johannes glichen.
»Der Mensch ist komisch eingerichtet.« Heißt es in Dostojewskis irrwitzig monomanen »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch«. Die radikale Bekenntnisschrift eines geistig fiebernden Umwerters aller Werte hat soeben für die Ruhrtriennale in der Mischanlage der Kokerei Zollverein Barbara Frey mit Nina Hoss inszeniert. Immer geht es bei dem Schriftsteller um den neuen Menschen und die Unsterblichkeit seiner Seele, um die Abkehr vom falschen Leben, um das Triebhafte, Krankheit und Schuld, um die zivilisationskritische Perspektive, die Russland vom freizügigen Westeuropa trennt und das christliche Erbe ernst nimmt (was in brutaler Pervertierung vom profanen Zaren Putin auch mit Hilfe der Staatsreligion blutigst durchexerziert wird).
Der mit Epilepsie Geschlagene ist der große Psychologe und Gewissens-Kundschafter der Weltliteratur, Künstler der Krise und der Leiden. Nicht zuletzt wirkt bei Dostojewski extremer Humor. Ja, den werde er, sagt Simons, auch benutzen: wild und ungezähmt.
Premiere: 14. Oktober
Weitere Vorstellungen: 15. Okt., 4., 5. Nov., 9., 10. Dez.
Schauspielhaus Bochum