Ein
Irrtum wäre es und kein unerheblicher, diesen schmalen Band als
soziologische Studie zu lesen. Die Fehleinschätzung erfolgte
bereits, durch die Rezensentin der Zeit.
»Wer hat meinen Vater umgebracht« (ohne Fragezeichen) ist eine
doppelte éducation sentimentale, die des Sohnes und die seines
Vaters. Ein einziger großer Monolog des Édouard Louis, gerichtet an
ein »Du«.
Nicht
nur, weil Louis ihn an einer Stelle zitiert, steht im Hintergrund der
Soziologe Didier Eribon und dessen »Rückkehr nach Reims«. Dieses
auch in Deutschland bis in den Bundestag hinein vieldiskutierte Buch
ist beides: kluge Untersuchung darüber, wie der Verrat der
neoliberalen Politik an der Arbeiterklasse deren Hinwendung von der
kommunistischen Linken zur nationalen Rechten zur Folge hat, sowie
Recherche seiner persönlichen Geschichte. Eribon hat sich, wie
Louis, aus seinem Milieu gelöst, um einen hohen Preis – dem der
Verleugnung der eigenen Herkunft. Nur durch die radikale Abkehr vom
Elternhaus konnte er zu dem werden, der er ist: ein intellektueller
Akademiker und Homosexueller, der virtuos das Spiel der
Selbsttechniken beherrscht.
Édouard
Louis, geboren 1992 in Nordfrankreich und mit seinem
Befreiungs-Debütroman »Das Ende von Eddy« berühmt geworden, den
er als 22-Jähriger publizierte, geht einen ähnlichen Weg wie sein
Freund und Lehrer Eribon. Gewidmet hat er seine Vater-Erzählung dem
franko-kanadischen Filmwunder Xavier Dolan. Dessen erster
aufrührerischer Film, »J’ai tué ma Maman« mit dem symbolischen
Muttermord, korrespondiert hier mit dem Protest gegen den sozialen
Missbrauch am Vater. Wer trägt die Schuld? Die Verhältnisse!
Der
Sohn leistet mit seiner »konfrontativen Literatur«, wie er es
nennt, Erinnerungsarbeit: »Meine Erinnerungen sind erfüllt von dem,
was es nicht gegeben hat.« Es ist ein sich aus Splittern und
Fragmenten zusammensetzender Text, geschrieben aus dem Defizit und
der Negation: des Vaters, dem es an Bildung und Besitz, an
Möglichkeiten, an sprachlichem Ausdruck ermangelte. Des Sohnes, dem
der schweigende, kranke, körperlich geschundene Vater lange fremd
blieb, um dessen Aufmerksamkeit und Liebe er sich bemüht, den er in
seiner Kraft und Wehrhaftigkeit bewundert und in seinem
»Männlichkeitswahn« gefürchtet hatte. Dem er nun mit zärtlicher
Zuneigung begegnen kann. So konstruiert Louis Momente der Empathie,
wie aus dem Gefrierschrank vereister Gefühle entnommen, die endlich
auftauen.
Das
Vater-Porträt, verfasst als Brief, ist ein kunstvoll kunstloser
»Schrei«, ist ein klagendes und anklagendes »De Profundis« über
den Verlust eines Lebens in Würde, über einen Akt der Zerstörung,
für den er Namen nennt, von Chirac über Sarkozy und Hollande bis
Macron, und über normative Urteile, die Andere über ein
Menschen-Ich fällen: Weiße über Schwarze, Reiche über Arme,
Männer über Frauen, Heteros über Schwule, die Elite über
Unterprivilegierte. Im Frankreich der »Gelbwesten«-Bewegung öffnet
es noch einen anderen Resonanzraum.
Gleichzeitig
– Édouard Louis weiß das – setzt er auch mit diesem
imponierenden Buch, seinem dritten, die Machtverschiebung fort, die
als »Rache« an den Eltern, an Brutalität und Demütigung begann.
Er zeigt, wie sich die Beziehung neu definiert, wie das Gefälle sich
umgestaltet. Denn heute ist der Sohn, der als Kind voller Angst und
umgeben von Leere war, der Herr der Rede. Er schreibt dem Vater, der
in seinem Veränderungswillen Vorurteile überdenkt und ablegt, etwas
zu. Über ihn wird gesprochen. Aber gut ist, dass so gesprochen wird.
Mit revolutionärem Feuer.
Édouard
Louis, »Wer hat meinen Vater umgebracht«, S. Fischer, 77 Seiten, 16
Euro.
Lesung auf der Lit.Cologne: 28. März 2019, Volksbühne am Rudolfplatz Köln