Im Ballett ist es wie beim Fußball: Wer die Grenze von 35 Jahren überschritten hat, gehört zum alten Eisen – abgesehen von Ausnahmetalenten mit Top-Körpern. Dann gilt es, eine neue Laufbahn zu starten. Die »Transition« ist eine schwere Zeit für ältere Tänzer*in, die auch für Choreograf*innen mal eine Bereicherung, mal eine Belastung sind. Die einen wissen ihre Erfahrung zu schätzen, andere suchen Wege, jene loszuwerden, die noch wollen, aber nicht mehr können. Robert North, seit 2007 Direktor und Chefchoreograf des Balletts der Vereinigten Bühnen Krefeld/Mönchengladbach, war ein international renommierter Tänzer in New York und London, bevor er an Häusern in Europa als Choreograf und künstlerischer Leiter arbeitete. Der US-Amerikaner (77) ist nach John Neumeier (80) in Hamburg der älteste Ballettchef in Deutschland. Er kennt die Thematik aus allen Perspektiven.
kultur.west: Mister North, denken Sie gelegentlich an Ihre Zeit als gefeierter Tänzer auf der Bühne?
NORTH (lacht amüsiert): Ja, manchmal denke ich daran zurück. Eine sehr glückliche Zeit.
kultur.west: Was hat Sie so glücklich gemacht?
NORTH: Ich wollte einfach nur tanzen. Ich brauchte keine Bühne, es ging nicht darum, vor Publikum aufzutreten. Ich habe jede Gelegenheit genutzt – ob in den Trainings, den Proben und sogar in Clubs oder Diskotheken. Ich bin Berufstänzer geworden, weil ich so mit dem Tanzen meinen Lebensunterhalt verdienen konnte.
kultur.west: Wann und wo war der letzte Auftritt?
North: Es war 1990 in Paris in »Der Tod und das Mädchen« mit Jazz Art von Matt Mattox, die Company des berühmten Jazztänzers. Er gab das Ensemble auf, wir waren alle sehr traurig. Da war ich 45 Jahre alt. Aber vor einigen Jahren bin ich noch einmal aufgetreten als Lord Capulet in »Romeo und Julia« in Mönchengladbach mit meiner Company. Allerdings habe ich da nur wenig getanzt, mehr geschauspielert.
kultur.west: Ist Ihnen der Bühnenabschied schwer gefallen?
NORTH: Ich wusste damals in Paris nicht, dass es meine letzte Vorstellung sein sollte. Ich bin nur nicht mehr aufgetreten, weil ich in der folgenden Spielzeit die Direktion des Balletts der Oper Göteborg/Schweden übernahm. Dort gab es jede Menge großartiger Tänzer – da wurde ich auf der Bühne nicht gebraucht.
kultur.west: Aber Sie hatten keine physischen Probleme?
NORTH: Nein, nicht wirklich. Ich habe unterrichtet und auch weiter trainiert, aber bin nicht mehr aufgetreten.
kultur.west: Dann sind Sie mit einem außergewöhnlichen Tänzer-Körper gesegnet.
NORTH: Nein, nicht wirklich, aber ich hatte großes Glück und einen starken Körper. Allerdings fing ich erst mit 19 Jahren an, professionell zu tanzen, deshalb war mein Körper nicht so lange dieser Belastung ausgesetzt. Die englische Primaballerina Margot Fonteyn war auf der Bühne, bis sie 60 Jahre alt war, der große Rudolf Nurejew bis 50. Beide litten durchaus an Verletzungen und hatten ihre Probleme – aber sie haben durchgehalten. Normalerweise ist mit spätestens 40 Jahren Schluss.
kultur.west: Tänzer*innen haben heute viele Möglichkeiten nach ihrer Bühnenlaufbahn: eine Umschulung, Selbstständigkeit, finanzielle Förderung durch die Stiftung Tanz oder eine Zusatzversorgung. Wie war das zu Ihrer Zeit?
NORTH: In England gab es damals, das war in den 1960er Jahren, eine Kasse, speziell für Tänzer. Viele haben mit Blick auf ihre Zeit nach der aktiven Karriere einbezahlt war, ich aber nicht. So etwas gibt es heute noch, auch in Deutschland. Die meisten finden eine andere Arbeit, in anderen Abteilungen des Theaters, werden Ballettlehrer*innen, Choreograf*innen und Direktor*innen oder finden einen anderen Job. Der Unterschied zu damals ist die Einstellung.
kultur.west: Inwiefern?
NORTH: Wir haben damals nicht viel erwartet. Heute denken viele junge Leute, dass ihnen alles geschenkt wird. Der große Balletterneuerer George Balanchine hat einmal einen wundervollen Satz gesagt: »Ich brauche keine Leute, die es lieben zu tanzen. Ich brauche Leute, die tanzen müssen.« Damals kam das Musical »Singing in the rain« mit der Nummer »Gotta Dance« mit Gene Kelly heraus. Das traf unseren Zeitgeist.
kultur.west: Gerade müssen wir alle wieder lernen, mit weniger auszukommen…
NORTH: Ja, gerade dreht es sich wieder. Schwere Zeiten können gut für die Künste sein. Natürlich nicht immer. Ich habe damals in der Martha Graham Dance Company getanzt. Wir hatten nur Verträge für sechs Monate im Jahr und bekamen nicht einmal die Proben bezahlt. Wenn wir die 26 Wochen, die wir brauchten, um Arbeitslosengeld zu beziehen, nicht voll hatten, gab Graham uns noch ein Job als Ballettlehrer*in. Die andere Hälfte des Jahres waren wir arbeitslos, wenn wir nicht einen anderen Job fanden. Das haben wir akzeptiert. Und das war bei Martha Graham, der bedeutendsten und größten Modern Dance Company weltweit. Und bei den anderen Companies sah es in Amerika nicht besser aus. In Deutschland und Europa ging es zivilisierter zu. Wobei, wenn ich an die Tourneen mit dem Royal Ballet denke… acht Auftritte in der Woche an einem Ort. Sonntags Abreise zur nächsten Station und am Montag den ganzen Tag Proben. Dazu könnte man heute keine/n Tänzer*in bewegen!
kultur.west: Harte Zeiten…
NORTH: Allerdings! Heute haben die Tänzer*innen ganz andere Arbeitsbedingungen. Aber sie sind nicht glücklicher als wir waren – wir haben für den Tanz gelebt!
kultur.west: Haben Sie als Ballettdirektor und Chefchoreograf erlebt, dass jemand seine Zeit überschritten hatte, aber nicht aufhören wollte?
NORTH: Das ist eine äußerst schwierige und schmerzhafte Situation. Ich weiß von befreundeten Kollegen, wie hart es ist, jemandem klarmachen zu müssen, dass seine Zeit vorbei ist. Glücklicherweise bin ich selbst nie in diese Lage gekommen.
kultur.west: Tänzer*innen erhalten in der Regel Zwei-Jahresverträge. Da sie nach 15 Jahren automatisch unkündbar sind, werden solche Verträge spätestens nach 13 Jahren nicht mehr verlängert. Was halten Sie von dieser Regelung?
NORTH: Ich finde sie falsch. Bei uns am Haus ist die Philosophie hierzu zum Glück auch etwas anders. In meiner Company sind gerade einige Ensemblemitglieder über 40 Jahre alt und unmittelbar betroffen. In der Vergangenheit gab es beispielsweise eine Tänzerin, die gerne noch drei Jahre geblieben wäre, bevor sie ihre Karriere beenden wollte. Das war jammerschade. Für Ballettdirektor*innen ist der Einfluss hier leider auch manchmal sehr begrenzt, das ist Sache der Intendanz. Meistens gelingt es aber, die Tänzer*innen im Haus, beispielsweise in der Kostümabteilung oder in der Inspizienz, unterzubringen.
kultur.west: Welche Qualitäten schätzen Sie als Choreograf an Künstler*innen mit Erfahrung?
NORTH: Ältere Tänzer*innen sind fantastisch! Sie reifen in einem Ensemble heran und tragen mit ihrer Ruhe und Erfahrung zur Identität einer Company bei. Beim Choreografieren machen sie es mir leicht – sie wissen oft sofort, wo ich hinwill. Deshalb versuche ich, sie so lange wie möglich zu halten.
kultur.west: Sie sind 77 Jahre alt und haben ein bewegtes Leben hinter sich. Wann wollen Sie sich ins Privatleben zurückziehen?
NORTH: Mein Vertrag endet 2025, dann bin ich 80 Jahre alt. Ich denke, dann höre ich auf. Meine Frau und ich reden oft darüber, was wir dann machen wollen. Aber noch haben wir keine konkreten Pläne.
Nächste Ballettabende von Robert North:
9./22. Oktober (Premiere in Krefeld) »Der Sturm/Ein Sommernachtstraum«, Ballettabend von Robert North
1./12./13./15./16./21./29. Oktober »Beethoven!« (Uraufführung in Mönchengladbach), Ballett von Robert North