Essen-Werden. Durch das alte, einstige Abteistädtchen führt der Weg und endet hinter einer Tordurchfahrt. Spätestens hier wird klar, warum der E-Mail eine genaue Lagebeschreibung beigefügt war. Ohne sie hätte man die ehemalige Schreinerei im verschachtelten Hinterhof schwer gefunden. Vor vielen Jahren ist Timm Rautert mit seinem Atelier hier eingezogen. Für ihn der perfekte Ort. Zu Fuß sind es nur ein paar Minuten nach Hause. In Werden, wo so vieles für ihn begonnen hat: Hier studierte er einst Fotografie an der Folkwang Schule für Gestaltung. In der Klasse von Otto Steinert, wo er 1967 auch Ute Eskildsen kennengelernt hat. Die beiden sind bis heute zusammen.
Während Eskildsen als Foto-Kuratorin am nahen Museum Folkwang zwischen 1979 und 2012 eine der europaweit führenden Sammlungen aufgebaut hat, war Rautert mit der Kamera unterwegs von Essen-Werden aus in die Weite Welt, quer durch alle Sparten des Mediums – als Künstler, Journalist und Chronist, als Porträtist und Professor. Er hatte Obdachlose und Uniformierte vor der Linse, kleine Tanzmariechen und große Künstlerpersönlichkeiten, Hightech bei Porsche und Amish People auf dem Pferdegespann. Ob frei oder angewandt, das hat ihn kaum interessiert, der eigene Stil, die marktgängige Handschrift ebenso wenig. Vielleicht hat man auch deshalb weniger von ihm gehört und gesehen als etwa von den gefeierten Kollegen aus der Düsseldorfer Becher-Schule.
In diesem Jahr wird Rautert 80, und das Folkwang Museum feiert ihn mit seiner bisher größten Ausstellung: »Die Leben der Fotografie«. Der Katalog ist gedruckt, Rauterts Bilder an den Wänden warten seit dem 19. Februar auf Besucher. Bevor das Museum hoffentlich bald öffnet, hat Rautert kultur.west schon einmal hereingelassen in seine umgebaute Schreinerei. Unten ist das Archiv untergebracht, eine schmale Treppe führt nach oben ins Atelier. Doch vorher fällt der Blick noch in die Dunkelkammer – nach wie vor ein wichtiger Raum für Rautert. Denn er hält bis heute fest am analogen Bild.
kultur.west: Warum arbeiten Sie weiter wie gehabt, was stört sie am Digitalen?
RAUTERT: Das Digitale nutze ich hin und wieder, nur für Memos. Die Dunkelkammer aber ist für mich eine Wunderkammer. Die analoge Fotografie kann die Erzählungen und die Erinnerungskultur, die im Medium eingeschrieben sind, weiter erhalten und vertiefen. Das digitale Aufzeichnungsverfahren dagegen trägt zur Geschwätzigkeit der Fotografie bei.
kultur.west: Zurück zur Fotografie, die Sie in den 1960er Jahren für sich entdeckt haben. Wie kam es dazu? Was hat Sie begeistert am Lichtbild, das damals vor allem als Instrument einer möglichst getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit galt und weit davon entfernt war, als künstlerisches Medium anerkannt und genutzt zu werden?
RAUTERT: Ich hatte eine Lehre als Schaufenstergestalter und als Dekorationsmaler begonnen. An den Kinos gab es damals große Malereien, riesige Bilder. Die habe ich gemalt – Gary Cooper konnte ich besonders gut, John Wayne auch. Heute hängen dort Fotos, keiner käme mehr auf die Idee, so etwas zu malen. An der Sommerakademie in Salzburg schrieb ich mich dann für einen Lithografie-Kurs ein, weil mich das technische Druckmedium reizte. Doch erschien mir bald auch das Hantieren mit den riesigen Steinen anachronistisch und absurd. Gleichzeitig begann ich zu fotografieren, wobei mir schnell klar wurde, dass dieses technische Bildmittel das Leitmedium des 20. Jahrhunderts war.
kultur.west: Da war der Weg zu Otto Steinert nach Essen nicht mehr weit…
RAUTERT: Fotografie als Kunst konnte man ja damals nur an wenigen Orten studieren, eher dann schon als Handwerk. Steinert war ein sehr bekannter und einflussreicher Lehrer. Ein harter Knochen – es wird ja viel erzählt über seine autoritären Methoden. Daran will ich mich aber nicht beteiligen. Ich habe immerhin zehn Semester bei ihm studiert. Und sehr viel gelernt.
kultur.west: Steinert stand für eine »subjektive Fotografie«. Das war neu. Dass man die Interpretation der Wirklichkeit vorantrieb und ihr den Vorzug gab vor der vermeintlich objektiven Ablichtung. Damit bereitete Steinert der Fotografie den Weg hin zu einem künstlerischen Medium. Gleichzeitig aber war er als Professor darauf bedacht, dass seine Studenten später ihr Auskommen haben mit der Fotografie.
RAUTERT: Er hat, denke ich, erkannt, dass das reine Experiment oder die Abstraktion in der Fotografie noch nicht allgemein möglich war. Er hat dann ganz praktisch die Realien der Fotografie gelehrt, zum Beispiel den Journalismus.
kultur.west: Bereits als Student haben Sie Bildreportagen gemacht: 1969 etwa thematisierten Sie, wahrscheinlich als Erster, ausführlich und sehr einfühlsam die Contergan-Tragödie. Eine Woche lang begleiteten Sie mit der Kamera zum Teil schwer geschädigt Kinder isoliert in einer Kölner Einrichtung. Was hat Sie dazu gebracht?
RAUTERT: Ich glaubte an den Erkenntniswert der Fotografie, und mir lag viel an einer kritischen Berichterstattung. Ich dachte damals, ich könnte mit Hilfe der Fotografie die Welt besser machen, den Finger auf die Wunden legen, zeigen, was ist. Heute habe ich oft das Gefühl, dass die Fotografie zum Weltunterhaltungsprogramm geworden ist. Damals aber lebte sie von Reibung, von Diskussion, es herrschte eine Aufbruchsstimmung.
kultur.west: Parallel zu sozial-dokumentarischen und sozialkritischen Arbeiten sind seit der Studienzeit Porträts entstanden. Außerdem haben Sie sich intensiv mit sich wandelnden Arbeitswelten beschäftigt. Und sind nebenbei weit gereist, um Bilder zu machen – etwa auf der Weltausstellung in Osaka.
RAUTERT: Ich habe mich immer für die gegenwärtige, die moderne Zeit interessiert. In der Architektur, in der Kunst – ich wollte dabei sein. Ich bin dorthin gereist, wo meine Zeit sich manifestierte, sei es in der Arbeitswelt, in der Architektur, den gesellschaftlichen Umbrüchen.
kultur.west: Auch in New York, vor allem in der Künstlerszene dort waren Sie unterwegs. Daneben haben Sie noch Zeit gefunden, sehr gründlich das eigene Medium zu bespiegeln in Ihrer »Bildanalytischen Photographie«.
RAUTERT: Was ist Raum, was ist Zeit, was ist Licht? Ich wollte herausfinden, was das ist, die Fotografie. Das habe ich in dieser Serie nicht wissenschaftlich, sondern eher poetisch untersucht, über die Bilder. Bis 1974 sind einige 100 Bilder zu gut 50 Fragestellungen entstanden. Der gesamte Zyklus ist heute in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
kultur.west: Weitaus weniger bekannt als die bildanalytischen sind die journalistischen Arbeiten, die Ihre Laufbahn in den 70er und frühen 80er Jahren prägten. Sie blicken zurück auf über 200 Bildreportagen, die vor allem für das ZEIT-Magazin, aber auch für andere Publikationen entstanden sind. Sie haben dabei mit unterschiedlichen Autoren zusammengearbeitet und lenkten die Blicke immer wieder auf gern übersehene Randbereiche der Gesellschaft. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit mit Michael Holzach.
RAUTERT: Das Interesse an sozialen, gesellschaftlichen Problemen hat uns verbunden. Und wir waren in einer sehr privilegierten Stellung: Gemeinsam haben wir uns Themen überlegt, und kaum etwas wurde von den Redaktionen abgelehnt – was heute kaum denkbar ist. Einmal haben wir zum Beispiel vorgeschlagen, ganz einfach eine Reportage zu machen über das, »Was die Kinder auf der Straße spielen« und sind dazu 14 Tage durch die Republik gereist. Es ist eine wunderschöne Titelgeschichte geworden.
kultur.west: Während Sie in Essen studierten und nachher als Journalist, Chronist, Porträtist unterwegs waren, haben Bernd und Hilla Becher systematisch Industrieanlagen abgelichtet. Haben Sie das wahrgenommen? Wie dachte man in Ihren Kreisen über die Arbeit der Kollegen?
RAUTERT: Bis Mitte der 70er hieß es noch: In Düsseldorf ist einer, Bernd Becher heißt er, der arbeitet rein dokumentarisch. Das Festhalten an immer gleichen Motiven fand man in Essen an der Folkwangschule eher langweilig. Ich aber nicht. Öfters habe ich mich zu den Ausstellungen der Bechers aufgemacht. Es ist schon verrückt, wie sich dann die Rezeption ihrer Arbeiten in kurzer Zeit gedreht hat.
kultur.west: Wie ist es bei Ihnen weitergegangen? Der Journalismus spielte seit den frühen 80er Jahren kaum mehr eine Rolle in Ihrer Arbeit.
RAUTERT: Mein Freund Michael Holzach, mit dem ich so viele Reportagen realisiert habe, verunglückte Anfang der 80er Jahre tödlich. Das war für mich der Anlass zu sagen, nun ist es genug. Von da an habe ich nur noch sehr ausgesuchte Dinge gemacht. Zum Beispiel mit Künstlern: Nam June Paik konnte ich bei seiner großen Ausstellung in Zürich begleiten, und A.R. Penck habe ich in London besucht.
kultur.west: Einige Beachtung fand auch Ihre Porträtfolge »Eigenes Leben«, in der Sie Menschen mit damals ungewöhnlichen Lebenskonzepten festhalten. Alleinerziehende, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Partner. Es war 1993 die letzte große Auftragsarbeit.
RAUTERT: Als ich die Professur in Leipzig antrat, habe ich meine Arbeit noch weiter zurückgefahren und mich stärker um meine Studenten gekümmert. Trotzdem sind natürlich eigene künstlerische Arbeiten entstanden.
kultur.west: In jüngeren Werken gehen Sie vermehrt mit Material aus dem Archiv um, greifen auf eigene ältere Bilder zurück und lassen sie in neuen Arbeiten aufgehen. Bilder verschmelzen miteinander, Collagen entstehen. Beim Blick zurück über fünf Jahrzehnte erstaunen die Vielfalt der Themen, Genres, Motive, das ungezwungene Hin und Her und Miteinander von freier künstlerischer und angewandter journalistischer Fotografie in Ihrem Schaffen. Auch für technische Neuigkeiten waren Sie immer offen. Früh schon haben Sie auch farbig fotografiert. Warum verschließen Sie sich so entschieden der digitalen Fotografie?
RAUTERT: Beim Fotografieren ist mir der Bezug zur Welt, zur Realität immer wichtig gewesen – schnell, ungeschönt, ungestellt. Wir Menschen sehen uns beim Leben zu. Der Betrachter erlebt etwas, das er selbst oder jemand anders gesehen hat. Ja, die Fotografie ist ein unglaubliches Dokument des Realen. Beim digitalen Bild ist das nicht mehr so. Es hat verloren, was für mich entscheidend ist.
TIMM RAUTERT UND DIE LEBEN DER FOTOGRAFIE
MUSEUM FOLKWANG, ESSEN
BIS 16. MAI 2021