TEXT UND STICHWORTE: ANDREAS WILINK
Volksbühne Berlin, im vergangenen Juli. Herbert Fritsch rollt auf der Bühne den Teppich aus, auf dem dann während zwei Stunden keiner bleibt. Den Arnold-und-Bach-Schwank »Die spanische Fliege« überbietet das bestens aufgelegte Ensemble um Wolfram Koch und Sophie Rois, indem es in die Luft geht, vom ›Jubelperser‹ abhebt und (mit Hilfe eines unsichtbaren Trampolins) wie Gummibälle auf und ab federt. Der Bürgersalon als anarchistische Gummizelle. So hat Fritsch, der als Schauspieler vor allem in Frank Castorfs Inszenierungen ein genialer Sensationsdarsteller, Irrläufer, Entfesselungskünstler und Katastrophen-Kasper war, am Theater Oberhausen in der vergangenen Spielzeit Ibsens »Nora« zum expressionistisch kolorierten, sexualneurotischen Fall erklärt. Mit dieser und einer zweiten Inszenierung aus Schwerin (Hauptmanns »Biberpelz«) war er beim Berliner Theatertreffen vertreten: Herbert Fritsch, mit 60 Jahren der Newcomer-Regisseur des Jahres. In dieser Saison wird er u. a. am Hamburger Thalia-Theater und am Schauspiel Köln (Brechts »Puntila«) inszenieren – sowie in Oberhausen Lessings »Emilia Galotti«. Vor 20 Jahren hat Fritsch selbst in dem bürgerlichen Trauerspiel – in Düsseldorf bei Werner Schroeter – den Intriganten Marinelli als aasig zungenfertige Schranze gegeben. Nun studiert er das Drama ein: Probebühne, Lessingstraße (!) in Oberhausen. Das Ensemble arbeitet den letzten Akt durch: Emilias Tod. Regisseur Fritsch gibt den Ton an, kostet Sätze vor, betont, extemporiert, korrigiert, lobt, bestärkt. Kaum, dass es ihn auf dem Stuhl hält. Ein kollegiales Alpha-Tier, das sein Ego in den folgenden Stichworten ausbuchstabiert.
A wie ANGST
Ist etwas ganz Entscheidendes für mich. Die Angst treibt einen, bringt einen irgendwohin. Man muss sie als Energie verstehen und sie benutzen. Dahin gehen, wo die Angst ist – da gibt’s viele Orte, um etwas zu entdecken.
B wie BOA CONSTRICTOR
Eine extreme Erfahrung. Ich bin mit einer Boa Constrictor aufgetreten – in »Pension Schöller« an der Volksbühne. Riesenschlangen sind ganz andere Wesen mit anderen Wahrnehmungen. Kaltblüter, die uns nicht begreifen, so wenig wie wir sie. Es hieß, sie ließen sich nicht dressieren. Man kann sich nur mit dem Tier mitbewegen, ihm folgen mit dem, was man tut. Dann sieht es aus, als hätte man es dressiert. Das ist auch das, was den Schauspieler auszeichnet: dass er sich nicht dressieren lässt, sondern sich an den Zwang anschmiegt und wie eine Schlange mitgeht.
C wie CASTORF
Für mich der wichtigste Regisseur, dem ich begegnet bin. Ich habe von ihm sehr viel mitbekommen, als Schauspieler und als Regisseur; habe mit ihm die schönsten Seiten des Theaters erlebt in den 90er Jahren, aber er hat mich auch an den Punkt geführt, wo für mich mein Schauspielern fragwürdig wurde und an Grenzen kam. So dass ich sagte: Damit höre ich jetzt erst mal auf bzw. betreibe die Schauspielerei auf anderer Ebene, nämlich als Regisseur.
D WIE DEMONTAGE
Wenn man sich nicht mehr vom Fleck bewegen kann, an Dingen festhält, von denen man längst weiß, dass sie einem nichts mehr bedeuten, sondern einen nur noch quälen und fertigmachen – das alles führt zu Demontage von einem selbst. Davor sollte man Angst haben. Das Schlimmste, was einem passieren kann.
E WIE ENERGIE
Ohne sie ist das Theater überhaupt nicht vorstellbar. Entscheidend ist für mich nicht mehr die Message, sondern dass ich mit einer Inszenierung einen Energiestrom entwickle. Energie, Kraft kommt aus der Angst. Und ist etwas, womit man durch die Angst brechen, sie zerschlagen kann. Ich brauche diese gesammelte Energie auch für meine Schauspieler – ich kann bei den Proben nicht nur unten sitzen und gucken, sondern muss die Energie in die Schauspieler rein geben. Ich weiß, sie kommt wieder zurück, strahlt zurück und schlägt aufs Publikum los.
F WIE FRAUEN
Meine Mutter habe ich in meiner Kindheit nicht erleben dürfen; sie hat mich sehr früh, als Baby, verlassen. Das hat mein Frauenbild ziemlich geprägt. Auch die Angst vor Frauen gehört dazu. Aber ich habe immer wieder Frauen getroffen, vor allem auch meine Frau, die mir diese Angst genommen und Kraft gegeben haben. Ich arbeite sehr viel und gern mit Frauen zusammen, kann mit ihnen oft besser umgehen als mit Männern, vor allem auch auf theoretischem und intellektuellem Gebiet.
G WIE GOTT
Den muss man spüren. Den muss man erkennen. Begreifen kann man ihn nicht. Man darf von ihm nichts fordern. Er ist nicht dazu da, uns glücklich zu machen oder zu Diensten zu sein. Gott ist eine Kraft, die einen erfassen kann in etwas Schlimmem oder sehr Gutem. Mein Glaube hat mich immer wieder Dinge bewältigen lassen.
H WIE HAMLET X
Ein filmisches Lebensprojekt, das noch nicht abgeschlossen ist. 58 kurze Filme gibt es – 222 sollen es am Ende sein, aber die Zahl ist nicht erheblich. »Hamlet X« war eine Zeitlang der Übergang vom Schauspieler zur Regie und wurde damals von Castorf extrem unterstützt, hat aber gleichzeitig meine Loslösung von der Volksbühne befördert, an der ich mich festgeklammert hatte – ich war kurz vor meiner Selbstdemontage. »Hamlet X« hat mich rausgewirbelt in den freien Raum und mich Dinge tun lassen, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Mich zu riskieren, als Regisseur, und mich intensiver mit Film zu beschäftigen.
I WIE ICH
Ich musste über lange Zeit lernen, mich zu mögen. Das habe ich am Theater gelernt – keine Angst davor zu haben, Ich zu sein, mein Ich an bestimmten Punkten durchzusetzen, zu zeigen und zu öffnen bis vorn an die Rampe – Mitte. Ich bin mir schon sehr wichtig.
J WIE JUGENDSÜNDEN
Damit könnte ich ein ziemlich umfangreiches Dossier füllen. Meine Jugendsünden waren heftig, sie haben mich auch intensiv mit dem Gesetz in Konflikt gebracht. Aber sie sind die Aufziehfeder für mein restliches Leben.
K WIE KUNST
Für mich das Gegenteil von Politik. Auch von politischem Theater. Das klingt so eingeschränkt. Kunst ist die andere Möglichkeit, mit dem, was uns beschäftigt, umzugehen. Politik ist mir zu erdverbunden und – zu schmutzig. Kunst hat eine Weite. Politik ist etwas für Leute, die ihr Ich mit nichts durchsetzen wollen. In der Kunst muss man sein Ich entfalten, so dass es Bedeutung gewinnen kann. Deswegen entscheide ich mich für die Kunst.
L WIE LESSING
Lessing hat mich das Sprechen gelehrt – auf der Bühne zu sprechen. Er macht einem Freude an der Sprache. Vor allem »Miß Sara Sampson« und »Emilia Galotti« sind für mich die besten und modernsten Stücke, vor allem wie Lessing Frauen beschreibt. Und es gibt seine wunderbaren Fabeln, etwa die vom geschnitzten Bogen, wenn man zuviel an ihm ziseliert und schnitzt, bricht er entzwei.
M WIE MÄNNER
Ich hatte unterschiedliche Haltungen zu Männern. In meiner Jugend ein etwas zärtlicheres Verhältnis ihnen gegenüber, was sich dann geändert hat, weil die Männer, denen ich begegnet bin, vor allem im Theater, oft welche waren, die mich zum Kampf herausforderten. Den habe ich nie gewollt. Kämpfen finde ich beschissen. Ich habe dann aber gekämpft und bin als jemand hingestellt worden, der sich auf Teufel-komm-raus durchsetzt. Das war aber nie der Fall. Ich wollte einfach nur spielen – mit andern.
N WIE NACKT
In meiner Karriere habe ich mich ja ziemlich oft ausgezogen. Nicht, dass ich mich davon distanzieren wollte. Aber ich habe über diesen Druck zur Schamlosigkeit – und es war ein Druck – meine Scham wieder gefunden. Ich habe kein Problem mit Nacktheit auf der Bühne. Ist ja was schönes, ein nackter Mensch. Und sich in einem bestimmten Moment nackt hinzustellen und zu sagen: Das bin ich, ist richtig. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ich mich nur noch auszog, wenn mir nix mehr eingefallen ist. Das ist langweilig. Und die Scham interessanter, dass man rot wird, Gefühle hat, um sich eine Grenze zieht, auf etwas reagiert.
O WIE OBERHAUSEN
Verbinde ich zuallererst mit dem Theater. Ich konnte hier Theater machen und auch einen Film, dank Peter Carp, der mich überhaupt in Luzern erstmals inszenieren ließ, und dank der Kurzfilmtage und Lars Hendrik Gass. Trotzdem finde ich die Stadt depressiv.
P WIE PANIK
Eine meiner größten Schwächen. Als Schauspieler ist vieles aus der puren Panik heraus entstanden. Ich war sehr panisch, auch depressiv, hab’ mich sehr gequält. Es war immer schmerzhaft. Auch wenn man es mir nicht ansah, es war für mich mit viel Grausamkeiten verbunden. Inzwischen kann ich es aus der Arbeit rauslassen. Die Panik jetzt verlagert sich nächstens ins Bett. Das passiert sehr oft. Am nächsten Morgen bin ich gereinigt. Und kann was tun.
Q WIE QUATSCH
Mache ich am liebsten: Regression, alles über den Haufen schmeißen, spinnen. Für mich eine geistige Qualität. Was man können sollte, was einem die Welt öffnet, den Blick auswischt und einen von dummen erfundenen Regeln fernhält, die man damit zertrümmern kann.
R WIE REGIETHEATER
Einerseits ein großes Missverständnis. Aber auch eine Qualität unseres Kulturguts Theater. Mit dem Regietheater wurde ein Sprung woanders hin gemacht. Aber es haben sich viele Verlogenheiten im Regietheater angesammelt und Grenzen für Schauspieler aufgetan. Ich habe es als etwas sehr Unterdrückendes und Behinderndes erfahren. Schauspieler werden darin kaum als Künstler akzeptiert, sondern als reproduzierende Leute und schäbig behandelt. Ich möchte, dass die Schauspieler die Nummer Eins sind am Theater. Dass sie souverän sind. Sie werden in Zukunft noch wesentlich artistischer und entfesselter auftreten.
S WIE SEX
DER Motor. Ein ganz großes Thema in all meinen Stücken. Und in meinem Leben. Da funktioniert unsere Ratio überhaupt nicht mehr. Ich habe da viel Angst und Schrecken und viel Glück erlebt.
T WIE TERROR
Etwas Furchtbares. Etwas, das einen in der Jugend extrem erfassen und in Abgründe führen kann. Ich war da ganz dicht dran. Erwachsene verantworten den Terror, aber lassen ihn machen durch junge Menschen.
U WIE UNFUG
Eine Variation von Quatsch, fast eine Doppelung, aber auch seine Präzisierung. Ist als Wort sehr schön: dass sich etwas nicht fügt, nicht hineinpasst. Nicht mitmachen. Seinen eigenen Weg gehen.
V WIE VORBILDER
Ich liebe das expressive Spiel auf der Bühne. Was immer noch verpönt ist in Deutschland, von wegen ›weniger ist mehr‹. Blödsinn. Übertreibung ist großartig, etwa bei Akira Kurosawa – was der seine Schauspieler machen lässt! Überhaupt der Expressionismus im Film. Und Bette Davis. Oder Orson Welles. Ganz groß.
W WIE WAHNSINN
Damit werde ich immer wieder konfrontiert – du bist ein Verrückter. Komischerweise verwenden wir das Wort inflationär: wahnsinnig toll usw. Was bedeutet dieser extreme Gebrauch? Andererseits erleben wir eine Welt, die Normalität forciert, im Film, im Theater – möglichst körperlich wenig aufmucken. Alles gerade. Wenn man den Mundwinkel verzieht, gilt es schon als Grimasse und man ist irre. Ich bin nicht irre, ich gestalte. Schlimm, dass in dieser Gesellschaft Gestaltung schon Wahnsinn ist. Ich denke da an die Ausstellung »Entartete Kunst« in München. Wer entscheidet, was Wahnsinn ist?
X WIE XXL
Auch so ein Zeitphänomen, das alles übergroß sein soll. Überbordend, damit alles reinpasst. Von solchen pauschalen Maßen halte ich mich möglichst fern. Ich liebe Maßanzüge.
Y WIE YOGA
Hat mir sehr geholfen, als ich langsam meine Jugendsünden ablegte. Als Schauspieler hat Yoga mir zu einem bestimmten Stil und einer Körperlichkeit verholfen, auch zu körperlicher und geistiger Sicherheit.
Z WIE ZENSUR
Es ist vertrackt. Man will sich durch nichts einschränken lassen und erfährt in irgendeiner Form doch Zensur, sei es durch Kollegen, den Intendanten, jemanden, der eingreift, jemand, der etwas sagt. Nach einer Premiere werden Zensuren verteilt. Egal, ob sie gut oder schlecht ausfällt, die Zensur macht Angst. Ich hatte das Glück, bisher immer frei zu arbeiten.
»Emilia Galotti«: Premiere: 23. Sept. 2011; Wiederaufnahme »Nora«: 19. Okt. 2011; auch Joe Ortons »Beute«, inszeniert von Fritsch, steht demnächst wieder auf dem Spielplan; Theater Oberhausen; www.theater-oberhausen.de