TEXT: ANDREAS WILINK
Vielleicht ist er vier Tage zu früh geboren, und der 35. Mai, an dem – wie man seit Erich Kästner weiß – unglaubliche Dinge passieren, Verhältnisse kippen, Pferde sprechen und Witz und kindliche Phantasie über Alltagsvernunft triumphieren, wäre das passendere Datum für Michael Wittenborn gewesen, um auf die Welt zu kommen.
Es ist ein bisschen langweilig und damit das Gegenteil von dem, was man mit ihm erlebt, privat und auf der Bühne, ständig zu wiederholen: Er kann alles. Er ist sehr komisch. Ein Agent provocateur der Harmlosigkeit und Archivar des Unscheinbaren, Leisen und Beiläufigen, aber auch ein Virtuose der Verstellung. Der Verwandlungskünstler Michael Wittenborn braucht dazu nicht unbedingt Maske, Schminke und Kostüm. Oder nur ein bisschen.
Es ist schön zu beobachten, wie sein Körper Platz schafft und er eine Art ziviler Hab-Acht-Haltung einnimmt, um einen Gast-Organismus aufzunehmen, wie die Gestalt, Typ, Charakter langsam von ihm Besitz ergreifen, dies die vorhandene Struktur verändert und eine andere Statur und Stofflichkeit annimmt. Das Alien wird Teil von ihm. Konzentration. Innere Sammlung. Offerten. Rücknahmen. Wiederholung. Muster und Variation.
Dabei findet er schrecklich, als Michael Wittenborn fotografiert zu werden: »weil ich mich immer verhalte«. Also zeigt er fünf Rollen: die Oma aus Ettore Scolas »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen,« die Karin Beier als Prekariats-Panoptikum im Wohncontainer ansiedelte; Becketts Wladimir; den Tartuffe; Brechts Knecht Matti aus aktuellem Anlass; und den Eisenstein aus der »Fledermaus«, wie er ihn bei Castorf gespielt hat: »pervers und abgefuckt«.
Man will es nicht glauben, aber bei aller Meisterschaft bekennt er sich zur »Angst des Schauspielers vor der Bühne«: »Wenn ich nicht die Freiheit hätte, wegzulaufen, würde ich da nicht rausgehen.« Also nährt er sich in den Wunsch, die abendliche Vorstellung möge, durch welche Umstände auch, Krankheit oder kollektive Krisen, abgesagt werden, um das individuelle Wohlbefinden zu sichern.
Wittenborn wahrt gern das Inkognito. Scheint schüchtern bis zum Unsichtbar-Werden-Wollen, was ihm auch gelingt, wenn er ganz in Grau – von der Hose bis zur Mütze und Haut und Haar – am Bühneneingang des Kölner Schauspielhauses auftaucht. Doch man vermutet immer Hintergedanken. Wie in seinen Figuren. Es bleibt stets noch eine Spiel-Ebene unaufgedeckt. In einem Woody-Allen-Film müsste er sich zuhause fühlen, wo Neurosen, Idiosynkrasien, allergische Reaktionen gegen das Leben, die Menschen und ihre Gepflogenheiten zu wortgewitzter Überlegenheit und fixer Intelligenz herausfordern. Und übrigens auch der Frauen wegen.
Das Wiederaufbau- und Wohlstandskind aus Bielefeld erinnert an das Elternhaus, in das mit dem Kaufmannssohn »’68 voll einschlug«. Eine überforderte Kriegsgeneration wusste nicht mit ihren Gefühlen umzugehen und noch weniger mit einem Burschen, »bei dem man Shit in der Tasche fand und der sich nicht entblödete, den Affen zu machen«, der sich mit dem Vater zoffte, bis sie einander in die Arme gefallen seien, was angesichts der emotionalen Störfall-Lage der fünfziger Jahre, in der Güte und Kälte sich verklemmten, eine Rarität war.
Der Halbwüchsige erfuhr dann in Hamburg in der Ersatzfamilie eines literarisch gebildeten Dandys und Lektors Prägung: »eine Welt, die ich gesucht und gefunden hatte, das muss man sich mal vorstellen!« Damals habe er sich bei Spaziergängen an der Alster entlang bis zum Deutschen Schauspielhaus vorgenommen, hier einmal zu spielen. Nach der ersten Vorsprech-Auswahl wurde er freilich nicht angenommen; später lehnte er zweimal ein Angebot für die Adresse an der Kirchenallee ab, um lieber in Stuttgart und Basel zu arbeiten, und wechselte schließlich für Baumbauers legendäre Intendanz 1993 bis 2000 dorthin – und traf Karin Beier.
Mit ihr lebt er seit 2007 in Köln, wo es sehr kölsch, also in sich widersprüchlich und damit Wittenborn entsprechend ist: nahe am Ring und nicht zu nah am Offenbachplatz. Ein Platz im Belgischen Viertel mit einer Evangelischen Kirche im katholischen Erzbistum. Unterm Dach eines denkmalgeschützten Hauses die Kleinfamilie Beier/Wittenborn mit Tochter Momina. Er habe ja schon einmal Familie gehabt, mit längst erwachsenem Sohn und zwei Stiefkindern, deren eines mittlerweile Ehefrau von Matthias Hartmann ist und »Micha«, wie man ihn nennt, folglich Ex-Stief-Schwiegervater des Intendanten vom Wiener Burgtheater, das auch einmal ein Arbeitsplatz Wittenborns war.
Gespräche mit Wittenborn sind Kartenhäuser, leicht gebaut, nie unumstößlich. Behauptungen werden getroffen, fallen in sich zusammen, nehmen abrupte Tonartwechsel von Dur nach Moll und umgekehrt vor. Das Gegenteil stimmt auch. Klar, sein Leben sei schön. »Es sieht bunt aus und fühlt sich auch so an«, staunt er. Trotzdem sei er »unzufrieden. Und das ist undankbar.« Psychischer Zickzack.
Wittenborn lacht gern, geräuschvoll, lauthals, urplötzlich. Das passiert ihm oft – nicht selten, dass er über sich selbst lacht, um dieses Verhalten unverzüglich als für andere möglicherweise unverständlich oder unangenehm auszuwerten. Zu Stiftern seines Humors müssen Gogol und Charms gehören, deren Komik aus der Entregelung der Wirklichkeit kommt. Auf den deutschen Olymp pfeift er, aber schwärmen kann er von Henry Vahl und Grete Weiser.
Bazillen und Bakterien legen es auf ihn an. Das fördert Panik-Reaktionen, Absagen, Selbstkollisionen, Seltsamkeiten. Wittenborn scheint jemand, dem es vor Unübersichtlichkeit und Veränderung graust. »Weil ich alles Mögliche bin, brauche ich ein bisschen Ordnung.«
Mit lauernd leidenslustiger Emphase attestiert er sich selbst, »ein völlig uninteressanter Mensch zu sein«. Er mag auch nicht von anderen Menschen lesen, wie interessant sie seien. Was erst recht fürs Theater-Milieu gelte, wo »es viele gibt, die auf der Bühne leben und außerhalb« – lange Pause mit Gedankenstrich – »weniger«.
Einerseits und andererseits. Sein feiner kluger Hundekopf nimmt Witterung auf, wo es gilt, sich zu zergliedern. Frohgemut stellt er fest und sich bloß. Aus der Präambel zum Grundgesetz des Michael Wittenborn: Er sei kein »Genussmensch«, sondern verhalte sich quantitativ, weshalb er nicht Wein trinke, sondern Bier, das er wie Wasser in großen Schlucken vertilge. Außerdem esse er gern fett und fix. Zum Beispiel: Bauernomelette. »Wie man isst, so arbeitet man: schnell und effizient.« Auch so ein Vaterspruch aus der Epoche der Daddy Blatzheims, an der eine Romy Schneider fast zerbrach. Aspekte von Kontrolle und Lustfeindlichkeit. Das Erbe schlägt bei dem 1953 Geborenen durch.
Wechseln wir zu seinen Kürläufen: Sein Hagen in Hebbels »Nibelungen«, Beiers Kölner Intendanz-Debüt, trug das Gesicht der Realpolitik, redlich und trocken wie Müntefering, aber nicht ohne Charisma – so sieht ein Beherrscher der instrumentellen Vernunft aus. Wittenborn war ein kurios verwahrloster Asylant in Shakespeares »Maß für Maß« aus den Wiener Vorstädten, ist ein Strickjacken-Wutbürger in Yasmina Rezas »Gott des Gemetzels« und das kümmerlich hartnäckige Faktotum in der orchestralen Chaosstudie »Demokratie in Abendstunden«. In Becketts »Godot« zeigt er Wladimir sarkastisch, knapp, hintersinnig und gleichmütig bei vollem Bewusstsein.
Wittenborn hat Spaß am Probieren – »Ich erfinde gern« – und liebt Sprache. Beim Text-Lernen gehe es ihm darum, zu testen, zu verkosten, eine Betonung zu finden, »die außergewöhnlich ist und manchmal bis zur Sinn-Entfremdung eigen, aber so treffend und unerhört, dass die Menschen etwas Neues wahrnehmen und sich verstanden fühlen«. Das sei wie Musik.
Sein Talent relativiert er. »Ich kann für nichts. Ich habe das als Geschenk bekommen. Es hat sich gefügt. Worauf sollte ich also stolz sein?« Nach der Schule hatte er sich zum Schriftsetzer ausbilden lassen. Noch lange gab er das Handwerk als Berufsbezeichnung an, weil er anmaßend fand, sich Schauspieler zu nennen. Das nachgeholte Abitur, die Aufnahme an der Münchner Falckenberg-Schule, die erste Fernsehrolle in »Derrick« habe die Eltern mit Stolz erfüllt, obzwar die sich über die gemeinsame Freude gleich wieder entzweit hätten.
Schauspieler wollte er schon früh sein. Woher der Impuls? »Peter Alexander im Weißen Rössl! Wenn der Quatsch machte, war es prima. Bei mir fand es keiner gut.« Das Überkandidelte und Verkleidungs-Tolle reizten ihn – typisch für ein nicht beachtetes Kind, das damals noch keine Majestät, sondern »nichts war und seine Bedürfnisse sekundär«. Schon am ersten Schultag habe er den Klassenclown gespielt, Auffallen und Blödsinn machen wollen. Nach Abschluss der Schauspielschule antwortete er frech auf die seriös gestellte Frage »Was erwarten Sie vom Theater?« mit der Gehaltsforderung »3.6«. Nicht für bare Münze zu nehmen. In Wuppertal gab es dann weniger Geld.
Wittenborn sagt, dass er erst nach einer ganzen Weile kapiert habe, dass man auf der Bühne »Scheiße bauen« durfte, statt »Understatement bis zur Langeweile« zu zeigen. Dass er als Schauspieler keinen Trip brauchte, »um Leute derart zum Lachen zu bringen, dass sie kotzen mussten«, und das Diktat »totaler Authentizität« ignorieren konnte. Als er Gert Voss in einer Bühnen-Aufzeichnung sah, habe er gesehen: »Das geht alles zusammen«. Verführen, vorführen, sich ausstellen und trotzdem ernsthaft, ehrlich und ehrbar sein.
Die Maskerade als Möglichkeit zur Wahrhaftigkeit. So spielte Wittenborn anfangs in Tübingen Tartuffe und Shylock. Für den Juden aus Venedig zieht er für uns nun noch mal den Kopf zwischen die Schultern, duckt sich, um zugleich das Haupt zu erheben und das Kinn zu recken. Aber weil der aus der Requisite beschaffte Hut die verkehrte Krempe hat und der angeklebte Bart sich falsch sträubt, lassen wir den Shylock sein.
Bei Brechts Knecht Matti passt die Schirmmütze. Inszeniert von einem anderen Anarchisten des Froh-, Un- und Gegensinns, Herbert Fritsch, und mit Charly Hübner als Partner Puntila (den er selbst schon in Hamburg als des Chaos wunderlichen Sohn gezeugt hat), wird das eine Pathologie der Gesten und Grimassen. Brecht dreht ab in Stummfilm-Manier: Murnau, Stroheim, Jannings und die Folgen. »Bei denen wusste man genau, woran man war.« Wittenborn warnt: »Suchen Sie nicht nach Seele!«.
Bei ihm aber weiß man nie so genau, woran man ist. Seine Seele wandert von den Gehirnwindungen und Gesichtsfalten ins Knochengerüst und ins vegetative Nervensystem.
Vorstellungen mit Michael Wittenborn am Schauspiel Köln: »Herr Puntila und sein Knecht Matti« am 1., 24. und 25. Februar; »Demokratie in Abendstunden« am 2. und 3. Februar; »Der Gott des Gemetzels« am 14., 18. und 23. Februar 2012. www.schauspiel-koeln.de