Günther Uecker bittet in seine Atelierräume am Düsseldorfer Medienhafen. Über zwei Etagen verteilt liegt die Werkstatt, wo unterm Dach das Rohmaterial des Bildhauers und Malers, Baumstämme und Axt, Leinwände und Farben lagern, das Ungestaltete wartet und das Geschaffene archivarisch erfasst ist. Eine Treppe tiefer fühlt es sich atmosphärisch heimeliger an. In der weitläufigen Studierstube und Denkklause stapeln und reihen sich Aquarelle und Zeichnungen in Serie, die eigenen Bücher und Kataloge (um die 300 sollen es sein), Plakate, Korrespondenzen, Ehrungen, Mitbringsel aus den Steppen Asiens, Fundstücke, Objekte. Ein geordnetes Sammelsurium, Fundus eines Global Player. »Der Arbeitsplatz ist die Kunst«, sagt Günther Uecker, der mit generöser Herzlichkeit die langjährige Freundin Gabriele Henkel und seinen Besucher empfängt. Am 13. März wird er 80 Jahre alt. Zu dem Datum wird er mit seiner Familie in Japan sein.
Henkel: Lieber Günther Uecker, sind Sie sich selbst ganz geheuer?
Uecker: Oh, das trifft mich. Das Ungeheuer in mir habe ich noch nicht entdeckt, aber ich ahne, dass etwas Unerklärliches vorhanden ist. Aus Not heraus handelnd und sich bildnerisch ausdrückend, fühlt man sich vielleicht davon befreit und wird vertraut damit.
Henkel: Vielleicht nicht nur vertraut – ist es nicht Beruhigung?
Uecker: Befriedung der unbekannten Kräfte, die man im Innern vermutet.
Henkel: Gibt es für Sie Vertrautheit mit anderen, vermutlich wenigen Menschen?
Uecker: Ich arbeite zumeist allein und laufe auch verträumt herum. Die Menschen, denen ich begegne, betrachte ich wie Gesandte, nicht Gesuchte, sondern Gesandte.
Henkel: Würden Sie von einem anderen Zustand sprechen, in dem die Dinge entstehen, von Nicht-Zurechnungsfähigkeit – und wie ist das Verhältnis zu Bewusstsein in der ordnender Disziplin?
Uecker: Bildnerisches Handeln ist in meinem Fall Bewusst-losigkeit. Also bewusstloses Handeln, das sich erst mal durch körperliche Bewegungen zeigt – die in Farbe getauchten Hände, das Führen des Pinsels. Es ist wie auf einer Schallplatte, in die früher die Tonspur eingeschnitten wurde, wie in Wachsplatten. Was sich da zeigt, ist unverstellt und – gerade im unbewussten Handeln – Ausdruck meiner selbst. In der Betrachtung wird es mir zur Einsicht. Einsicht und Akzeptanz, dass so etwas in mir ist und mich verwirrt. Deshalb gebe ich Zielvorstellungen immer mehr auf.
Henkel: Sind Sie mit sich selbst befreundet?
Uecker: Das ist wie eine Umarmung – ich schlafe auch auf dem Bauch – und wie ein großes Plasma, in dem ich mich fast embryonal getragen und geborgen fühle. Meine Kindlichkeit findet Ausdruck darin, dass ich mich wundere. Solange man sich wundert über das, was die Welt ist und wie sie sich wandelt, solange ist man auch aufnahmefähig. Diese Aufnahmefähigkeit regt das innerlich Vergrabene, das eigene psychische Grab an. Das Unbekannte wird dem Grab entnommen, bekommt Körperlichkeit. Dieses Umbetten ist manchmal auch die große Leinwand.
Henkel: Das Werk.
Uecker: Ich lasse mich darauf ein, die Fläche zu berühren, zu umarmen und zu liebkosen, am Ende wird sie benagelt, um das ganze Gefühl zu fixieren.
Henkel: Ein Statement.
Uecker: Ein Akt der zeitlichen Verfestigung. Wie wenn man an der Ostseeküste Pfähle in die See treibt, um das Meer zu bändigen, damit es nicht die Küste verschlingt.
Henkel: Beruhigt oder ängstigt Sie das?
Uecker: Das Gefühl von Angst bewahrt sich im hohen Maße. Man soll sehr angstvoll sein, denn Angst ist ein instinkthaftes Reagieren auf Gefahr. Sie soll nicht paralysieren und versteinern, sondern aktivieren. Aus der Angst entwickeln sich lebensrettende Handlungen.
Henkel: Ist für Sie das Obsessive kontrollierbar?
Uecker: Ja, durch das Material. Fixierung im Material, wie man ein Foto im Fixierband fixiert. Das gilt auch für einen Gefühlskomplex, eine große Emotion, die Ausdruck findet. Der Moment bleibt in der Zeit stecken, wird befestigt durch Benagelung.
Henkel: Der Nagel befestigt das Sein.
Uecker: Befestigt den Augenblick der Empfindung. Das ist dann die letzte Phase der bildnerischen Handlung.
Henkel: Wie ist das Verhältnis von Zerstörerischem und Schöpferischem?
Uecker: Aggressivität schließt Gewalt ein – gewaltig sind auch die Berge und eine Geburt. Ohne Gewalt würden wir uns nicht hervorbringen. Gewalt ist eine natürliche Emotion, aber sie kann sich auch gegen den anderen richten, durch Verletzungsaktivitäten. Das ist in meinem Werk ein sich wiederholendes Thema. Die große Emotion ist ein Befriedungsakt: Deine unbekannten, auch diabolischen Energien, dein komplexes Sein überträgst du ins Bildwerk.
Henkel: Und löst dich so los.
Uecker: Erschöpfst dich in der Schöpfung.
Henkel: Sie betonen, dass die Wurzeln Ihrer Arbeit im Handwerklichen liegen…
Uecker: Auf der einen Seite das Handelnde, auf der anderen Seite das Denkende. Die Welt denkt sich selbst und wir partizipieren synaptisch mit Kurzschlüssen in unseren Neuronen an dem, was die Weltschöpfung ist. Wir haben teil an einer sich denkenden Welt, die sich in uns bildhaft ausdrückt und in den Bildern auch reflektiert ist. Immer über das hinaus, was wir selber sind oder als Maler gemacht haben. Teil von Gottes Schöpfung ist man als Handelnder im Vertrauen darauf, dass es durch einen hindurch geht.
Henkel: Sind Sie ein trauriger Mensch?
Uecker: Ich bin zutiefst deprimiert, manchmal.
Henkel: Bei der Arbeit oder außerhalb von ihr?
Uecker: Wenn ich nichts tue. Ich therapiere mich durch mein getriebenes Handeln. Am glücklichsten bin ich, wenn ich alles, was an Energien in mir vorhanden ist, mich be-drängt und bedroht, mittels künstlerischen Handelns zum Ausdruck bringe und dadurch befriede. Ich finde dann die Möglichkeit, mit mir selber umzugehen
Henkel: Wobei Sie äußerlich die Aura von Ruhe und Weisheit umgibt.
Uecker: Das ist die Transformation. Die Fähigkeit, mein Talent bildhaft zum Ausdruck zu bringen, oder auch sprachlich, was ich als Künstlervernichtung empfinde. Das Bild beginnt, wo die Sprache versagt. Da, wo ich immer mehr parliere, sprachfähig werde, vermindert sich meine Gestaltungsfähigkeit im Bildnerischen. Deshalb versuche ich in dieser Balance, auf dem Grat des Scheiterns das Bildhafte wie das Sprachliche auszudrücken. Eine schizoide Veranlagung, dass ich angestrengt die zwei Welten – das Alphabetische und das Bildhafte – in einen Zusammenhang zu bringen versuche. Das ist nur mit der Ruhe möglich, der Gleichgültigkeit, beides als gleich gültig anzuerkennen. So entsteht vielleicht der Eindruck, dass ich ruhig bin. Das künstlerische Handwerk ist bei mir großteils Autotherapie.
Henkel: Seit wann arbeiten Sie mit bildnerischer Sprache? Uecker: Angefangen habe ich mit dreieinhalb Jahren, indem ich Überschriften von Zeitungen nachgezeichnet habe. Die 5 hatte ich gern, weil die ein so offenes Maul hat, da empfand ich einen schönen Schauer, dass die 5 mich auffrisst. Als Kind habe ich immer gezeichnet. Wenn mein Vater mich fand, hat er mich stark geschlagen, weil er dachte, das Kind ist missraten. Den Bauern hat das sehr verstört.
Henkel: Was bedeutet die mecklenburgische Heimat für Ihre künstlerische Arbeit?
Uecker: Zunächst die Sunde Null, wenn man auf den Horizont schaut, von der Insel aus, wo ich aufgewachsen bin. Das sich wandelnde Oberflächenwasser, wo sich Wind und reflektierendes Licht abzeichnen. Das sind erzählerische Flächen von ungeheurem Ausmaß. Was dahinter ist, und da ist ja etwas, setzt man voraus, wenn man am Meer groß wird. Dann sind da die Schiffe, die über die Erdkrümmung hinweg fahren, über diesen gebeugten Rücken, wie im Gebet. Die Erde ist wie ein Gebet. Es ist spukhaft, auf einer Insel aufgewachsen zu sein und auch ziemlich sprachlos.
Henkel: Man interpretierte die Welt nicht.
Uecker: Erst mit 32 fing ich an, aus dem Gestammel eine eigene Sprache zu finden, autodidaktisch. Deshalb meine Obsession, so viele Bücher zu machen und meine Freude am Papiermaterial, das sich auffächert. An der Küste der Ostsee gibt es die steilen Küsten aus Kalk oder Kreide und Lehm; wenn das Meer dagegen stürzt, blättert wieder etwas ab, dann offenbart sich eine Millionen jährige Erdgeschichte. Wie ein wunderbares Buch.
Henkel: Sie haben früh den fernen Osten, China, die Mongolei, Korea und Südostasien als Ausstellungs- und als Arbeitsorte für sich entdeckt. Was hat Sie da fasziniert?
Uecker: Dieser Osten ist heute die Disco. Da ist was los. Nach China reise ich seit 1984. In letzter Zeit war ich sechsmal dort. Auch in der früheren Sowjetunion gibt es 92 ethnische Gruppierungen, die autonom bestehen. Das ist ein ganz weites Feld, ein ungeheurer Reichtum an Erbschaft aus Jahrhunderten, was wir von Europa aus nie einschätzen konnten, weil wir keinen Zugang hatten. Was für eine große Kulturdichte: Man meint, angekommen zu sein. Vergleichbar mit Israel, wenn ich in der Judäa-Wüste stehe und den Staub auf der Zunge spüre, habe ich das Gefühl, es sei der Staub von Menschheits-Generationen.
Henkel: Warum hatte Uecker in der Künstlerstadt Düsseldorf, in seiner Stadt – so wie Beuys zu Lebzeiten – nie eine Ausstellung in einem Museum?
Uecker: Man hat es mir jetzt wieder angeboten, aber ich möchte es gar nicht. Düsseldorf ist für mich kein Ort der Exhibition, sondern Ort der Werkstatt, der Arbeit und der Lebenserfahrung in dieser Region mit der Menschendichte des Ruhrgebiets, wo Arbeit existentiell fürs Überleben notwendig war. Der Arbeitsplatz ist die Kunst.
Redaktion: Andreas Wilink
Günther Uecker, geboren 1930 in Wendorf, Mecklenburg, Maler, Bildhauer, Installationskünstler; Studium an den Kunstakademien Berlin-Weißensee und Düsseldorf, wo er von 1976 bis 1995 selbst Professor sein wird; seit 1957 entstehen die Nagel-Bilder; 1961 Mitglied der Künstlergruppe ZERO; mehrfach documenta- und Biennale-Teilnehmer; viele internationale Auszeichnungen; weltweit Ausstellungsprojekte.