TEXT: MARTIN KUHNA
Es riecht an diesem Sommersamstag 2014 nach verschüttetem Bier; der »Parc d’Avroy« in Liège hat sich noch nicht ganz von einer Open-Air-Party erholt. Überhaupt wirkt er ein bisschen verwohnt, was nicht recht zu den vielen respektheischenden Denkmälern passen will, unter ihnen eine monumentale Erinnerung an den Beginn der belgischen Unabhängigkeit 1830. Der bürgerliche Park hat allerdings Ärgeres erlebt als bierselige Feste: Am 14. August 1914 sahen Anwohner beklommen, wie deutsche Eroberer in Sichtweite des Freiheits-Denkmals ein riesiges Geschütz aufstellten; beim ersten Schuss des Ungetüms zerbarsten rundum die Fensterscheiben. Zwei Tage später waren die letzten Forts im Westen der Stadt ausgeschaltet und die Schlacht um Lüttich beendet. Der Krieg zog weiter. Liège war, wie ganz Belgien, den Deutschen einfach nur im Weg gewesen.
Hintergrund war der notorische Plan des Generalstabschefs Schlieffen: Im Zweifrontenkrieg sollte erst Frankreich in einem Blitzkrieg besiegt werden, ehe sich die deutschen Truppen gegen die nur langsam mobilisierenden Russen wenden würden. Zu dem Plan gehörte eine Umfassungsbewegung des »rechten Flügels« durch die neutralen Staaten Luxemburg, Belgien und Niederlande. Schlieffens Nachfolger Helmuth von Moltke zog es dann vor, die Niederlande zu umgehen: ein Feind weniger. Dadurch ergab sich für den Durchmarsch ein schmaler Korridor, und in dem Flaschenhals steckte als Pfropfen die mächtige Festung Lüttich. Während Schlieffen kurz vor seinem Tod vorschlug, das Problem durch Erpressung zu lösen (Kapitulation oder Bombardierung), entschieden sich Moltke und sein Leiter der »Aufmarschabteilung«, Erich Ludendorff, für Eroberung per »Handstreich«.
ÜBERFALL AUF BELGIEN
Als Ende Juli 1914 das System der Mobilmachungen, Ultimaten und Kriegserklärungen abzuschnurren begann, war klar, was Deutschland von seinem kleinen belgischen Nachbarn erwartete: »Dürfen wir mal da durch?« Am 2. August wurde das in die unmissverständliche Form eines Ultimatums gekleidet. Die Belgier lehnten ab. Am Morgen des 4. August setzten sich sechs Infanteriebrigaden und ein Kavalleriekorps vom Raum Aachen her in Marsch, 60.000 Mann, und überschritten ohne Kriegserklärung die belgische Grenze.
Der erste Ort dahinter, den deutsche Soldaten erreichten, heißt sehr deutsch: Gemmenich. Ein freundliches Dorf, wo man geläufig französisch, deutsch und niederländisch spricht. Grabsteine auf dem Friedhof zeigen, dass das vor 100 Jahren nicht anders war. Selbst am Kriegerdenkmal, landestypisch dem »Sacré Cœur« gewidmet, findet sich eine deutsche Inschrift. Hinter dem Grenzort dehnt sich eine anmutige Hügellandschaft mit Viehweiden und Obstwiesen. Im heißen August 1914 wird dieser Landstrich wenig anders ausgesehen haben als heute. Die Soldaten dürften dafür kaum Augen gehabt haben. Sie hatten es eilig. Schon um 10 Uhr waren die ersten in Thimister, 20 Kilometer von Gemmenich entfernt.
DER ERSTE BELGISCHE GEFALLENE
Der 21-jährige Antoine Fonck ist dort mit einigen Kameraden als Aufklärer unterwegs, als er einen Trupp Ulanen entdeckt. Er eröffnet das Feuer, trifft einen Deutschen und will davongaloppieren. Die Ulanen schießen zurück. Der tödlich getroffene Fonck gilt als erster belgischer Soldat, der im »Großen Krieg« sein Leben ließ. Am Ort seines Todes, an der Nationalstraße 3, hat man ihm und seinem Pferd ein Denkmal errichtet.
Als die Deutschen am folgenden Tag die engere Umgebung Lüttichs erreichen, stoßen sie auf zunehmenden Widerstand. Das hatten sie nicht erwartet – eine für den ganzen Krieg typische Fehleinschätzung der anderen Seite. Die Verachtung des Gegners, der Zeitdruck durch den Schlieffenplan, Wut und Panik verleiten die Deutschen dazu, viele belgische Attacken und auch Feuer von eigenen Truppen unbesehen vorgeblichen »Franktireurs« zuzuschreiben, irregulären Partisanen. Die Antwort ist brutale Rache an Zivilisten: In Battice etwa werden mehrere Häuser angezündet, in Warsage sechs Geiseln erschossen. Was vor Lüttich beginnt, findet Tage später grausige Höhepunkte: 674 Zivilisten in Dinant erschossen; die Löwener Bibliothek in Brand gesetzt. Diese deutschen Kriegsgräuel, von alliierter Propaganda dankbar ausgemalt, prägen nachhaltig das Bild von den brutalen »Hunnen«.
Bei Attacken gegen die östlichen der zwölf um Lüttich herum gruppierten Forts gehen die Deutschen mit eigenen Soldaten nicht weniger brutal um: Fortbesatzungen sehen mit Entsetzen, wie Infanteristen Welle auf Welle in ihr Maschinengewehrfeuer rennen, bis sich vor den Forts Leichen stapeln – wiederum ein Vorspiel: zu den Massenopfern in Verdun, an Marne und Somme. Einen Erfolg gegen die Forts bringt die Verschwendung deutschen »Menschenmaterials« nicht, und auch die Stadt Lüttich weigert sich zu kapitulieren. Daran ändert auch das erste Luftbombardement des Krieges mit Hilfe eines Zeppelins nichts. »LZ VI« verliert überdies durch Beschuss Gas, muss bei Bonn notlanden und wird sofort abgewrackt: militärisch nutzloser Terror, wie wenig später über London.
Im Chaos vor Lüttich betritt Erich Ludendorff die Szene. Er hat den »Handstreich« am grünen Tisch mitgeplant und darf nun als »Schlachtenbummler« zusehen, wie es läuft. Als der Kommandant der 14. Infanteriebrigade im Kampf getötet wird, nimmt Ludendorff kurzerhand dessen Stelle ein. Mit Kühnheit und Glück kann er die Brigade zwischen zwei Sperrforts hindurch an die Stadt heranbringen, in die sie einmarschiert.
Ludendorff lässt sich zur mittelalterlichen Zitadelle hinauffahren, die wenigen dort verbliebenen Belgier ergeben sich dem Generalmajor. Der »Held von Lüttich« wird wenige Wochen später an die Ostfront gerufen und mit Hindenburg zum »Sieger von Tannenberg«, später Chef der Obersten Heeresleitung und zum geheimen Diktator Deutschlands. Der bis 1918 weit verbreitete Glaube an Ludendorffs Genie geht auf »Lüttich« zurück.
Dabei bringt der »Handstreich« militärisch wenig. Denn noch ist keines der Betonforts erobert. Gegen die müssen andere Mittel her. Dem Mythos Ludendorff folgt der Mythos »Dicke Bertha«. Bei Krupp in Essen werden eiligst einige Mörser mit dem riesenhaften Kaliber 42 Zentimeter auf den Weg gebracht. Gedacht waren sie für französische Forts; jetzt sollen sie die unerwartet zähen Belgier zur Raison bringen. Und das gelingt. Die Lütticher Forts sind den aus großer Höhe herabstürzenden schweren Geschossen nicht gewachsen. Ein Treffer in die Munitionskammer des westlichen Forts Loncin markiert am 15. August das Ende: Bei der Explosion sterben 350 Mann, der Lütticher Militärgouverneur, General Leman, gerät in Gefangenschaft. Am nächsten Tag ergeben sich die beiden letzten Forts, der Weg Richtung Paris ist frei.
Auch die »Dicken Berthas« ziehen weiter. Sie weden zum Mythos bei Freund und Feind, zur Wunderwaffe, zum Inbegriff des Schreckens, zum Synonym für »Riesengeschütz«. So wird einige Jahre später das monströse »Paris-Geschütz« mit der Dicken Bertha verwechselt, obwohl es eher lang ist als dick. Auch die Erinnerung der Bürger von Liège hat laut Waffenexperten getrogen: Was da 1914 vom Parc d’Avroy aus feuerte und Fensterscheiben zerspringen ließ, war wohl keine Dicke Bertha, sondern ein etwas kleinerer Skoda-Mörser, ausgeliehen von den öster-reichisch-ungarischen Waffenbrüdern.
In Deutschland ist die Erinnerung an den »Handstreich von Lüttich« stark verblasst vor dem, was deutschen Armeen und dem Helden Ludendorff während der folgenden Jahre widerfuhr. Bei den Alliierten ist das anders. Liège gilt dort als jene Stadt, die dem deutschen Militärmoloch als erste Widerstand leistete. In Frankreich war man so begeistert, dass der Stadt noch am 7. August 1914 das Kreuz der Ehrenlegion verliehen wurde.
Pariser Cafés nannten »Café Viennois« nun »Café Liègois« – das Getränk heißt dort noch heute so. 1925 beschlossen Veteranen der Siegermächte, ein »Mémorial Interallié« in der Pionierstadt Liège zu errichten. Das Ensemble aus Turm, weitem Platz, Erinnerungstafeln, Skulpturen und einer neo-byzantinischen Kirche »Sacré Cœur« wurde Ende der 30er Jahre eröffnet – ironischerweise kurz bevor die Deutschen wieder auftauchten.
Der Große Krieg und die Erinnerung daran ist in Liège nur mäßig präsent. Die alte Zitadelle oberhalb der Innenstadt ist weitgehend überbaut mit einem scheußlichen Krankenhaus aus den 70er Jahren. Auf dem Hügel gegenüber am anderen Maasufer rottet die »Sacré Cœur« vor sich hin; seit Jahren desakralisiert, soll sie an einen Investor verkauft werden. Liège, das Jahrzehnte sichtbar am Niedergang seiner Industrie litt, hatte zweifellos Wichtigeres zu erneuern. Das nie ganz vollendete weltliche interallierte Monument dagegen wird soeben fertig restauriert – gerade rechtzeitig zum Jahrestag der »Bataille de Liège«.
Insgesamt haben es Stadt und Region, die den Großen Krieg als erste erlebten, mit dem Erinnern nicht eilig und feiern keine Feste, ehe sie fallen. So wird auch die zentrale Doppel-Ausstellung »Liège Expo 14–18« erst Anfang August eröffnet: Im »Musée de la Vie wallone« wird das Leben in der Stadt und der Kampf vom 4. bis zum 16. August nachgezeichnet: »Liège im Sturm«. Die zweite Ausstellung erweitert den Blick auf ganz Belgien und darüber hinaus: »’14 war ich 20«. Ausstellungsort ist der spektakuläre TGV-Bahnhof Guillemins des Architekten Santiago Calatrava, unterhalb des interalliierten Denkmals.
Von den zwölf Forts im Umland können einige besichtigt werden – darunter Fort Loncin, dessen Explosion den Widerstand der Festung Lüttich brach. Die meisten der 350 getöteten Soldaten liegen noch heute unter den Betontrümmern. Einige der Geschütze, mit denen sie sich verteidigten, waren kleinere Schwestern der siegreichen »Dicken Bertha«: Made in Germany. Von Krupp in Essen. C’est la guerre. Und so ist das Geschäft.