»Durch die Ritzen im Dielenboden konnte ich das Wasser sehen, wie es sich ständig bewegt.« Das ist das Erste, was Maura Morales erzählt, wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert. Ihre Familie lebte im kubanischen Fischerdorf Nuevitas. Noch heute suche sie den Blick aufs Meer, auf den offenen Horizont, wenn sie an einer Choreografie arbeite. Deshalb reist sie gern auf die Kanaren und nach Barcelona, wo sie im Studio eines Bekannten proben darf. Dort tritt Maura Morales manchmal mit »Project Galilé« in der Musik-Schauspiel-Tanz-Produktion »Dornröschen« auf, einer Art Fortsetzung des Märchenballetts: »Als Aurora erwacht, erzählt ihr der Prinz, was im 20. Jahrhundert alles passiert ist.« Maura Morales selbst geht mit sehr offenen Augen durch die Welt und schaut gern hinter das Alltägliche, durch Bretterlücken hindurch: Was bewegt sich da?
»Ich bin neugierig auf das Leben, ich versuche es aufzusaugen, all die Emotionen. Wenn ich tanze, bin ich in diesem Moment diese Figur und gleichzeitig ich selbst. Das Leben ist so dramatisch.« Sie lacht. »Es ist so voller verschiedener Gefühle, Entscheidungen, Gedanken. Das ist es, was ich da tanze.« In Deutschland gibt man sich ja eher bedeckt. Den Unterschied im Verhalten beschreibt die 1977 Geborene so: Wie eine Art Werwolf fühle sie sich, wenn sie nach Kuba reise, »schon am Flughafen wird meine Haut dunkler, die Haare lockiger, die Stirn höher.« Bei der Rückkehr verwandelt sie sich wieder, sagt Maura Morales und zeigt, wie sie, die ohnehin relativ klein ist, ein wenig zusammensackt, sich verschließt.
Doch wenn sie tanzt, schöpft die Kubanerin aus dem Vollen. Das Heruntertemperierte, intellektuell Distanzierte oder auf visuelle Effekte Spezialisierte so mancher Kollegen ist nicht ihr Ding. In ihren Choreografien, die schon einige Preise gewannen, treibt sie Ticks, Verformungen und Besessenheiten aus ihren Figuren heraus. »Hypochonder« war so ein Wesen, total fixiert darauf, wie sein Körper zwackt und zwickt. In »Ella« wechselt sie permanent den Charakter, indem sie mit den Füßen die Geschichten erspürt und erfindet, die in den Schuhen der Zuschauer stecken, in die sie leihweise schlüpft. Bei aller Lust am Dramatischen, Rückhaltlosen wirkt Maura Morales als Tänzerin dabei nie auf schmierige Weise tragisch oder pathetisch.
In ihrem Solo »Wunschkonzert«, das 2012 in Bonn Premiere hatte und das sie bei »tanz nrw 13« im Pumpenhaus in Münster und im Düsseldorfer Forum Freies Theater zeigen wird, inszeniert sie auf sanft-groteske Weise eine gebändigte Frau. Im schwarz-weißen Kostümchen betritt die ihr Reich: eine Einzimmerwohnung aus Pappwänden. Fenster, Spüle, Regale, Sofa, Teppich hat der argentinische Künstler Claudio Capellini darauf gezeichnet. Die Frau bewegt sich ruckelnd und gebremst wie eine Comicfigur, wäscht sich die Hände, blättert in einem Heft, beißt in einen Apfel, raucht. Pantomimisch. Das ist alles zu flach, zu unecht, zu leer – wie das Leben dieser Frau. Aus ihrem Radio quäkt kurz eine Sendung über verklemmte Sexpartner. Die Frau schaut aus dem Fenster, auf ihren Finger ohne Ring, streichelt und leckt dann an Tischkante und Türrahmen, wuschelt im Teppich, als könne das Zimmer wie ein Mensch ihre Haut berühren. Dann fasst sie sich an Lippen und Rocksaum, zieht an der Zunge, die Finger verhaken sich in den Zehen. Sie verzerrt sich, verdoppelt sich. Zum Schluss stopft sie sich vergilbte Blüten in den Mund, gierig, fast glücklich, will lachen, aber kann nicht. Keucht tonlos, kann auch nicht weinen.
Vor fünf Jahren stieß Maura Morales, die gern und viel liest, auf Franz-Xaver Kroetz’ Stück »Wunschkonzert« von 1971, ein stummes Frauensolo mit Radio. Es erlebt inzwischen ein kleines Revival auf Theaterbühnen, was sie aber bewusst ignorierte. Das ausgestellt Künstliche macht ihre Version so reizvoll und modern; diese fast vertrocknete Lebenssehnsucht verkörpert sie auf berührende Weise. Ein vergessener Schrei.
»Ich will Tänzerin werden«, hatte sie mit fünf Jahren gesagt, ohne genau zu wissen, was das ist. Als Talentscouts in ihrer Grundschule nach Tänzernachwuchs suchten und 300 Kinder vermaßen, befanden sie die sechsjährige Maura für fähig und boten ihr zwölf Jahre Ausbildung samt Internat in Camagüey an. Kostenlos, »ein Vorteil im kommunistischen Staat«.
Sie blickt gern auf die Schulzeit zurück. Sie lernte Modernen Tanz und Ballett, »das fand ich oberflächlich, da ging es nur um Form und technische Perfektion«, sowie Schauspielen. Als sie ihr erstes Engagement beim Staatsballett antrat, spielte sie gleichzeitig in einer experimentellen Theatergruppe. Es war die Zeit der größten Krise in Kuba Anfang der 1990er Jahre. Zu dieser Zeit seien die Künste aufgeblüht »wie verrückt«, erzählt sie. Damals wie heute sei Kuba schön für Besucher gewesen, aber dort zu leben, ist extrem schwierig. Maura Morales schickt ihrer Mutter regelmäßig Geld.
Eine Gastspielreise nach Wien nutzte ihre damalige siebenköpfige Company, um abzuhauen. Denn eine solche Chance hätte sich ihnen vielleicht nie wieder geboten. Sie hockten in einem Zimmer, illegal und ohne Geld. Maura Morales war siebzehn. Sie schlich sich in den Deutschkurs an der Universität ein. Mit ihrem Mann Michio, einem Musiker aus dem Saarland, den sie in Wien kennenlernte, zog sie später nach Düsseldorf. Dort choreografierte Joachim Schlömer für sie 1999 beim Theater der Klänge das Solo »Frühlingsopfer«. Eigentlich wollte sie nach Wuppertal. »Es war immer mein Traum, für Pina Bausch zu tanzen.« Bei einer Audition dort kam sie sogar unter die letzten vier von 300 Tänzerinnen. Doch mitten in einer Improvisation hatte sie einen Blackout und rannte heulend zum Bahnhof. Als sie einem Mitreisenden erzählte, was passiert war, sagte der weise: »Es war doch ein Traum«.
Maura Morales tanzte dann in anderen Stadttheatern, zuletzt in Darmstadt, wo sie in Hauptrollen glänzte. Weil ihr die Betriebsroutine nicht behagte, entschied sie sich 2008 für das Dasein als freischaffende Tänzerin und Choreografin. In Hannover in der Eisfabrik probt sie momentan, im Bonner Ensemble Cocoondance tanzt sie in »I’ve seen it all«, kürzlich choreografierte sie in Camagüey. Für ihr nächstes Stück »Don Nieda – Herr Niemand« recherchiert sie in Düsseldorf, während sie Hund Lucia ausführt. Sie spricht mit Obdachlosen. Einer sitzt täglich mit einem Koffer an einer Bushaltestelle. An die wütende Frau mit dem Tütenberg vorm Kaufhof traut sie sich aber nicht heran: »Die hat so viele Geister um sich herum.« Zwischen den Ritzen sieht man eben nicht immer nur das Meer.
DAS FESTIVAL »TANZ NRW«
Seit 2007 präsentiert das Festival »tanz nrw« alle zwei Jahre Produktionen des zeitgenössischen Tanzes in sechs bis acht Städten in NRW. Als Jury fungieren die Theater- und Kulturamtsleiter der Veranstaltergemeinschaft. Sie suchen die Produktionen aus. Einige der Spielstättenchefs möchten ihrem Publikum Neues oder gar Ungewohntes bieten. Ludger Schnieder vom Pumpenhaus in Münster hat deshalb Maura Morales’ »Wunschkonzert« eingeladen, dazu die Produktion »Ich geschichtet«, das die Düsseldorfer Choreografin Gudrun Lange mit Jugendlichen erarbeitet hat. Er schätzt das Festival, weil es nicht nach Uraufführungen giere oder sich an internationalen Spitzen abarbeite, sondern die Aufmerksamkeit auf die lokalen Produzenten lenke. Und auf die regional bedeutsamen Künstler, für die die Auftrittsmöglichkeit im Rahmen von »tanz nrw« wichtig ist.
Denn die freien Choreografen präsentieren ihre öffentlich geförderten Stücke eigentlich viel zu selten, meistens nur an ihrem Heimatort oder im Ausland. Auch die Bühnen haben Mühe, Zuschauer zu gewinnen, wenn sie mal einen neuen Namen ins Programm nehmen. Ein Festival aber zieht Publikum an, und »tanz nrw« kommt den Zuschauern auch mit einem ideenreichen Rahmenprogramm entgegen, nicht zuletzt hofft man auf Interessenten und Veranstalter aus anderen Bundesländern und aus dem Ausland. »Dreißig bis vierzig solcher Fachbesucher kommen erfahrungsgemäß«, berichtet Heike Lehmke von Tanzperformanceköln, bei der die Organisationsfäden zusammenlaufen. Das Ergebnis der aufwändigen Koordination kann sich sehen lassen: Elf Tage lang sind auf 18 Bühnen in Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen, Krefeld, Wuppertal, Viersen und Münster fast 30 Stücke von 26 Kompanien zu sehen.
Die Auswahl ist solide: Raimund Hoghe und VA Wölfl sind dabei, Henrietta Horn, Mark Sieczkarek, Angie Hiesl; auch Stephanie Thiersch, Ben J. Riepe, Cocoondance, Silke Z. und Samir Akika sind inzwischen so etabliert, dass sie im Festival nicht fehlen können. Yoshie Shibahara mit ihren leisen »Exuviae« ist schon über den Geheimtippstatus hinaus. Dass sogar die Stadttheater in Köln und Bonn diesmal Bühnen zur Verfügung stellen, ist ein gutes Zeichen. Denn gerade in Köln sieht die Auftrittssituation für freie Choreografen oft wie Underground aus. Das kann mal seinen Reiz haben, ist aber für die Reputation des Genres schädlich.
Vom 27. April bis zum 7. Mai 2013 in NRW. www.tanz-nrw-aktuell.de + www.mauramorales.de