TEXT: ANDREAS WILINK
Ivan Locke hat einen unsichtbaren Mitreisenden bei seiner Fahrt auf der Autobahn, allein im Wagen, durch die Nacht nach London. Sein toter Vater sitzt auf der Rückbank, und der Sohn spricht mit ihm. Er will es anders machen, besser, richtig. Will kein »Arschloch« sein. Nicht jemand, der keine Verantwortung übernimmt und sich drückt. Ivan Locke fährt und telefoniert, pausenlos. Das ist die ganze Geschichte. Sie gehorcht der aristotelischen Einheit von Zeit, Raum und Handlung. Regisseur Steven Knight und sein fabelhafter, unerschütterlich gelassener Darsteller Tom Hardy verlassen den BMW keinen Moment. Eine Situation wie in »Buried … Lebend begraben«. Extrem. Rasend spannend. Hoch konzentriert.
Ivan Locke hat während seiner Tour drei Sachen gleichzeitig zu erledigen. Am nächsten frühen Morgen wird der größte Betonguss in Europa stattfinden für das Fundament eines 55 Stockwerke hohen Gebäudes, das an den Himmel rührt. Er ist der Bauleiter und Konstruktions-Ingenieur und weiß alles über die komplizierte Aktion. Aber er wird nicht dabei sein. Zu Hause warten seine Frau Katrina und die Söhne Eddie und Sean auf ihn, um gemeinsam ein Fußballspiel zu schauen und dabei Würstchen zu grillen. Aber auch dorthin ist er nicht unterwegs. In einem Krankenhaus in London liegt eine nicht mehr junge Frau und bekommt ein Baby – für sie die letzte Chance auf ein mögliches Glück. Er ist der Vater, hat das Kind gezeugt bei einem One Night Stand, dem einzigen während seiner 15-jährigen Ehe. Die Schwangere, deren Fruchtblase im siebten Monat geplatzt ist, Bethan, ist einsam und braucht ihn an seiner Seite. Er liebt sie nicht. Er erkennt den »Fehler seines Lebens«. Aber er steht gerade für seine Tat. Dafür riskiert er seinen Job und seine Familie. Er weiß genau, was er tut. Und er hat keine Wahl, wie er meint.
»Do the right thing«. Ivan Locke ist ein Homo Faber. Rational, praktisch, kalkulierend, problemlösungsorientiert. Hart wie Beton. Die Gewissheit, die Angelegenheit zu regeln und zum Guten wenden zu können, treibt ihn an. Schwierigkeiten meistert er in aller Ruhe. Eins nach dem anderen. Ordnung, ein Plan, ein System: So lässt sich das Schicksal beherrschen. Auf der Baustelle sind Vorbereitungen zu treffen, die sein Assistent auf seine Anweisung hin erfüllen muss, es fehlt eine Genehmigung, Pfusch am Bau muss behoben, mit einem Behördenvertreter nach Dienstschluss gesprochen werden. All das dirigiert Ivan Locke fernmündlich. Zwischendurch greift er zu Taschentuch und Tropfen, denn erkältet ist er auch noch.
Die Klinik meldet sich, als Komplikationen auftreten, die Nabelschnur sich um den Hals des noch Ungeborenen gewickelt hat und eine Operation nötig wird. Seine Frau, der er gesteht, was passiert ist und was ihn abhält, daheim zu sein, reagiert fassungslos, beendet die Beziehung und verbietet ihm das Haus. Den Söhnen schuldet er eine Erklärung. Vielleicht ist Ivan Locke ein Held. Vielleicht ein Narr. Dass man diese Frage stellen und nicht beantworten kann, macht ihn groß. Shakespeare-Größe. Es sind die Dinge des Lebens, die Entscheidung fordern. Quid est veritas? Wir erleben gebannt Ivan Lockes persönliche Wahrheit.
»No Turning Back«; Regie: Steven Knight; Darsteller: Tom Hardy; GB 2014; 85 Minuten; Start: 19. Juni 2014.