TEXT: GUIDO FISCHER
Bluten für die Kunst: Bei 90 Prozent, schätzungsweise, schlug die Operation fehl. Die Verbliebenen hingegen wurden zu einem zwar verschnittenen, aber doch gemachten Mann, um es salopp zu sagen. Wenn die Farinellis, Senesinos und Carestinis mit ihren weiblichen Stimmen die Koloraturtreppen erklommen, schrie das Publikum außer Rand und Band: »Es lebe das Messerchen!« Kastrierte Opernstars sind seit mehr als zwei Jahrhunderten Musikgeschichte. Doch ihr Erbe lebt weiter. Kein Opernhaus kommt mehr ohne einen Countertenor aus, um jene Bravour-Rollen zu besetzen, die Händel oder Vivaldi für ihre männlichen Hochtöner geschrieben hatten.
Die Zeiten liegen noch nicht so lange zurück, in denen die Kastraten-Nachfolger mit ihrem natürlichen Sopran wie ein Weltwunder bestaunt wurden. Davon kann auch der in Zagreb geborene Countertenor Max Emanuel Cencic ein Lied singen. Zwanzig Jahre ist es her, da er von der Mutter wie eine Zirkusattraktion durch die Konzertsäle gescheucht wurde. Als er 17 war, hatte Cencic mit seiner unverändert glockenreinen Knabenstimme bereits an die 800 Auftritte absolviert. Er kann sich gut daran erinnern, sich damals als »freakig« empfunden zu haben. Nunmehr gehört er, vor allem mit Andreas Scholl und Philippe Jaroussky, zu den Stimmfach-Spezialisten, bei denen man nicht mehr an androgyne Exotik, sondern an vollendete Gesangskunst denkt.
Zumal mit dem Franzosen Jaroussky arbeitet Cencic häufig zusammen. Im Jahr 2011 erkundeten sie in italienischen Kammerkantaten arkadische Barock-Welten. Davor gehörten beide für den Alte Musik-Stardirigenten William Christie zur ersten Wahl, als es um die Wiederbelebung einer geistlichen Oper von 1631 ging. »Il Sant’Alessio« von Stefano Landi erwies sich als wahres Countertenor-Fest – mit Cencic, Jaroussky und sechs weiteren Kollegen. Eine etwas geringere Phalanx steht auf der Bühne der Kölner Oper in der konzertanten Aufführung der Barockoper »Artaserse« von Leonardo Vinci.
ERLESENE MÄNNLICHE ALTSTIMMEN
Fünf Countertenöre verlangt dieses bislang vollkommen vergessene Meisterwerk. Neben Cencic und Jaroussky ist mit dem Argentinier Franco Fagioli noch eine der erlesensten männlichen Alt-Stimmen zu hören. Dass diese von Dirigent Diego Fasolis und Concerto Köln angeführte Allstar-Produktion schon im Vorfeld – als CD-Aufnahme und als Inszenierung von Silviu Purcarete in Nancy – fiebernde Aufmerksamkeit erreichte, ist nicht zuletzt Cencic zu verdanken.
Er war vom Countertenor-Aufmarsch in »Il Sant’Alessio« derart angetan, dass er ihn mit einem zweiten Stück und Auftritt wiederholen wollte. Er befragte die Archive des goldenen Zeitalters des Barock und wurde bei einem Komponisten fündig, dem die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli schon 2009 auf ihrem Kastraten-Album »Sacrificium« mit einer Arie gehuldigt hatte.
EIN ERFÜLLTES KURZES LEBEN
Wahrscheinlich 1696 in Kalabrien geboren, schien Leonardo Vinci in seinen kurzen 34 Lebensjahren alles erreicht zu haben, was sich ein Opernkomponist wünschen konnte. Im leichten Buffa-Fach oder im Bereich der Opera seria verbuchte er in den Musikmetropolen Venedig, Rom und Neapel Erfolg um Erfolg. Stets waren es die berühmtesten Sänger und Sängerinnen, für die er Prachtpartien schrieb. Dazu zählte die Mezzosopranistin Faustina Bordoni genauso wie der legendäre Sopran-Kastrat Farinelli. In Vincis 1730 in Rom uraufgeführtem Historiendrama »Artaserse« übernahm Farinellis großer Konkurrent Giovanni Maria Bernardino alias Carestini eine der Schlüsselrollen.
Obwohl das von Pietro Metastasio geschriebene Libretto einen Opera seria-Stoff aus der Konfektionsabteilung bietet, bei dem es am persischen Königshof um Politik, Intrigen, Ehre und Eifersucht geht, ist die Musik ein dreieinhalbstündiges, ästhetisch prunkvolles Ereignis. Gewiss gibt es unter den 30 Solo-Arien manche, bei denen über fast zwei Oktaven reinste Pyrotechnik geboten wird. Doch Vincis eigentliche Qualität über die affektive Aufladung hinaus ist sein Gespür für zauberische Ausdrucksnuancen und erlesene Ornamentik, für beschwingten Orchester-Drive und unwiderstehliches Dolce. Es wundert nicht, dass drei Monate nach der gefeierten Uraufführung Anfang 1730 nicht nur Metastasio vom frühen Tod Vincis erschüttert war, der angeblich eine vergiftete Tasse Schokolade getrunken hatte.
Fast drei Jahrhunderte später lässt ihn das Quintett Countertenöre konzertant wiederauferstehen: jeder von ihnen eine Idealbesetzung, angefangen bei Philippe Jaroussky, leuchtend und strahlend in der Titelpartie, bis zur Vitalität des Franco Fagioli, der als Arbace auf den Spuren Carestinis wandelt. Der Ukrainer Yuriy Mynenko gestaltet den General Megabise dramatisch dnymisch; eine der beiden Frauenpartien hat der mit einer berückend schönen Sopran-Stimme ausgestattete junge Rumäne Valer Barna-Sabadus.
Bleibt noch Cencic, über den Jaroussky sagt, er klinge manchmal »wirklich wie eine Mezzosopranistin«. Deshalb sei seine Stimme perfekt für die Partie der lodernden Mandane. Cencic hat als »Prima inter pares« und Motor des Projekts zudem das Glück, in dem einzigen Duett der Oper mitzuwirken. Die Liebesschwüre, die Artaserses Schwester Mandane und der Königssohn Arbace in »Tu vuoi ch’io viva o cara« tauschen, bilden (auch textlich) das bewegendste Stück des Werks: sinnlich, emotional und quasi vollendet »weiblich«.
Voltaire schrieb damals, als man diese Süße im Manne noch mit dem Messerchen hervorkitzelte: »Die einen sterben daran, die anderen erlangen eine Stimme, die schöner ist als die von Frauen«.
»Artaserse«: 17., 19. & 27. Dezember 2012, Oper am Dom. www.operkoeln.com. Die CD »Artaserse« ist erschienen bei Virgin / EMI.