// Der Sommer ist die vielleicht enttäuschends-te Jahreszeit. Juni, Juli, August schüren große Erwartungen, lassen auf klare Verhältnisse, lichte Stunden und laue Nächte hoffen. Doch der Sommer ist ein Extremist, trügerischer als das wohltemperierte Frühjahr, als Herbst und Winter. Das Böse unter der Sonne kann Schatten werfen wie auf den erbarmungslos ausgeleuchteten Gemälden de Chiricos.
Esther Kinskys »Sommerfrische« ist ein trauriges Buch. Fast höhnisch klingt sein Titel. Denn von Frische, Reinheit, Erholung kann keine Rede sein. Wir sind in Südostungarn, am großen Fluss. Die Hitze hat früh eingesetzt in diesem Jahr.
Es gab kein Hochwasser, Trockenheit hat das Schwemmland ausgedörrt, spröde und rissig gemacht. Die Erde hat ein Gedächtnis, »hier, wo praktisch jeder Quadratzentimeter durchblutet ist«. Erschlaffende Schwüle und Gräue liegen auf der Landschaft und ihren Menschen, die einem wie in Schwarzweiß – mit hartem Weiß, gesprenkelten Mustern und Schattenlinien – vor Augen treten, wie in einem Film des Neorealismus, einem frühen Werk von Pasolini oder De Sica aus dem Armenhaus Italiens.
Eine Stadt nahe der rumänischen Grenze am Rand der Ebene unterm hohen Himmel und eine Feriensiedlung (»üdülö« ) am Fluss, eine Schrotthalde und eine Kneipe, als deren Herren sich die auftrumpfenden Kozakjungs mit ihrer Sippe weißfleischiger Frauen fühlen, bilden die wechselnden Schauplätze. Der Bergbau in der Gegend wurde stillgelegt. Die Bergmannshäuser stehen leer, sogar die Buslinien wurden eingestellt. Nichts soll daran erinnern, was einmal war – besser, lebbarer, lebenswärmer war. Esther Kinskys Prosa erinnert an den Aquarell-Stil des baltischen Barons Eduard von Keyserling, nur dass sie sich vom Adeligen ins Proletarische verlagert und geografisch verschoben hat. Sie schafft eine, obschon konkret sozial verortet, magisch irreale Atmosphäre.
Die 1956 geborene, in Berlin und Budapest lebende Übersetzerin hat sich auf Wanderschaft zurück begeben und den Takt des Todes zu ihrem Erzähltempo gemacht: »Sommerfrische« – das ist wie Schuberts »Winterreise«, nur in eine andere Seelen-Wüstenei und Wehmut transponiert, doch wie in dem romantischen Lied-Zyklus vom Bellen der Hunde begleitet.
Es reihen sich Worte, die das Beschädigte, Kaputte, Ausgedörrte vielfach variieren. Qualvoll, könnte man meinen. Doch das Beschriebene und die Beschreibung klaffen auseinander. Die Evokation lyrisch filigraner Schönheit behauptet sich stolz und trotzig im Widerspruch zum Abbild einer desolaten Welt und müden Wirklichkeit – einer kollektiven Gemütskrankheit. Unter dem gesichtslosen Einfluss scheinbar unverrückbarer Verhältnisse verkehrt sich alles ins Schäbige. Und leuchtet doch. Es öffnet sich etwa »die feuchte große Handmulde der Nacht«, während es nach Fäulnis und Sumpf, Schweiß, Schnaps und gesottenem Fleisch riecht.
Kinsky erzählt keine durchgängige Geschichte. Fragmentarisch, komponiert in 23 kurze Kapiteln von fünf, sechs Seiten, treten ihre Figuren auf. Menschliches Strandgut wie Antal, der Maurer, der für eine fremde »Neue Frau« seine Familie verlässt. Ihre Gemeinsamkeit soll nicht von Dauer sein. Hinzu treten Nachbarn und Freunde, Tagelöhner, Kalkhändler und andere kleine Gewerbetreibende, Gestalten, die ramponierte Autos plündern, wohl auch Schmuggler und Schwarzhändler darunter. Bulgarische Fernfahrer und »Zwiebelmänner« lesen des nachts Mädchen am Oasishotel auf, Marikas und Zsuzsikas dienen dem Zeitvertreib.
Ein »Swimmingpull« wird angeliefert und in Lacibácsis Garten aufgestellt, dessen pure Exis-tenz in dieser Umgebung so grotesk anmutet wie sein verballhornter Name. Wenn etwas »Palermo« heißt und mit seinem Klang die Phantasie von Ferne hervorruft, handelt es sich nur um einen grünen Gelee-Kuchen, den jemand aus der Großküche für sein Kind daheim mitbringt. Vier Pfauen, die Erbschaft von Antals an Krebs gestorbener Mutter, stolzieren fassungslos auf schütterem Grund und Boden. Ganz und gar fehl am Platze, als kämen die kostbaren Tiere aus Oscar Wildes »Salome«, nur dass der dekadente Silbermond über Judäa hier »großen rosa Mohnblüten« gewichen ist, die über den ungesunden Schlaf der Gegenwart an der Peripherie Europas wachen. //
Esther Kinsky, Sommerfrische; Matthes & Seitz, Berlin, 2009, 118 S., 16,80 Euro