TEXT: ANDREJ KLAHN
Karl Marx verdanken wir den zeitlosen Hinweis, dass sich alle weltgeschichtlichen Tatsachen zweimal ereignen, als große Tragödie und als »lumpige Farce«. In Pyotr Magnus Nedovs Debüt-Roman »Zuckerleben« versuchen zwei verzweifelte Zuckerfabrikarbeiter sich selbst zu strangulieren, im Abstand von 20 Jahren und mit unterschiedlichem Erfolg. Der eine, Wladimir Pawlowitsch Pușcaș, legt sich 1991 in Moldawien vergeblich die Schlinge um den Hals; der andere, Pippo Calabrese, baumelt 2011 von der Zimmerdecke einer italienischer Pension in den Abruzzen. »45 Jahre Schufterei, und alles für den Arsch«, schreibt der Moldawier auf seiner schmieröl-besudelten Abschiedsnotiz; »30 Jahre Schufterei, und alles für den Arsch«, kritzelt der Italiener auf den Zettel. Pușcaș erreicht just am ehrenvollen Tag seines Ausscheidens aus dem Betrieb die Nachricht, dass mit der sich auflösenden Sowjetunion auch die Rente dahin ist; Calabreses Betriebszugehörigkeit wurde krisenbedingt vorzeitig beendet. Und so bringen sie denselben letzten Satz zu Papier: »Ihr könnt mich mal.«
Der welthistorische Treppenwitz kündigt sich in Nedovs »Zuckerleben« als banales Echo an, seine Pointe aber liegt im nivellierenden Systemvergleich: 1991 geht der Realsozialismus flöten, 2011 steckt der kapitalistische Westen in der Finanzklemme. Damit wäre der weltpolitische Prospekt skizziert, vor dem Nedov allerhand windige Figuren und skurrile Krisengewinnler auftreten lässt. Allen voran der junge moldawische Spekulant Pitirim Tutunaru, der 1991 die Gunst der historischen Stunde erkennt und schnell ein paar Produktionsmittel in Form einer illegalen Schnapsbrennerei privatisiert.
Gemeinsam mit Wladimir Pawlowitsch Pușcaș, dem 65-jährigen Ex-Helden der sozialistischen Arbeit und Ex-Selbstmordkandidaten, versucht Tutunaru, 40 Tonnen Zucker in Wodka zu verwandeln und den selbstgebrannten Fusel in gut kapitalistischer Manier schnöde zu Geld zu machen. Was der Schwarzhändlergilde von Dondușeni allerding überhaupt nicht passt. Sie ruft den »Bulibascha« Tudorel-Deomid Balmus zu Hilfe, der als großkrimineller Dorffürst für das Wohlergehen von 5.000 Roma-Seelen zuständig ist und sich deshalb auf dem osteuropäischen Schnapsmarkt genauso wie im westeuropäischen Organ-Handel engagiert. Zwischendurch werden der Leichnam des sozialistischen Ex-Zuckerfabrikdirektors Hlebnik in einem riesigen Samagon-Bottich eingelegt, Pippo Calabreses Überreste heimlich im Hinterhof verbrannt und zahllose Zigaretten unterschiedlichster Marken geraucht. Und damit ist diese wilde, zwischen Moldawien und Italien, zwischen 1991 und 2011 pendelnde Geschichte, die Pyotr Magnus Nedov in seinem Roman »Zuckerleben« erzählt, gerade mal andeutungsweise umrissen.
Der 1983 in der Sowjetunion geborene Nedov ist in Moldawien, Rumänien und Österreich aufgewachsen, hat in Wien, Paris, Montreal, Moskau und Köln studiert, wo er zurzeit lebt. Er gehört wie etwa auch Olga Grjasnowa, die mit »Der Russe ist einer, der Birken liebt« im letzten Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, zu einer wachsenden Gruppe weltläufiger junger Schriftsteller, für die das Deutsche nur eine unter vielen Sprachen ist, die sie beherrschen. Wollte man Nedovs »Zuckerleben« mit irgendetwas vergleichen, wird man im Kino eher fündig werden als in der Bibliothek. Quentin Tarantinos brutale Ironie oder Emir Kusturicas verschwenderische Sinnlichkeit haben den promovierten Filmwissenschaftler vermutlich mehr inspiriert als literarische Vorbilder.
So ist es nur konsequent, dass Nedov seinen Roman szenisch eingerichtet hat, mit effektvoll inszenierten Auftritten und Abgängen, großem Einfallsreichtum, rasanten Dialogpassagen, hintergründigem Witz und klug kalkulierten Cliffhangern. Wer so schnell unterwegs ist, darf hier und da auch mal ziellos in der Gegend herum plotten und Figuren am Straßenrand zurücklassen – um sie dann eher notdürftig als überraschend wieder auf die Bühne zu hieven. Was am Ende zählt, ist der Show-Wert – und der ist bei Nedov immens groß.
Pyotr Magnus Nedov: »Zuckerleben«; DuMont Buchverlag, Köln 2013, 368 Seiten, 19,99 Euro
Lesung am 8. März 2013 in der Wolkenburg im Rahmen der Lit.Cologne