TEXT: SASCHA WESTPHAL
Anatol ist nur eine Spiegelung. Die Rückwand der kleinen Holzbühne, die Guus van Geffen in Oberhausens Theater-Malersaal gebaut hat, versperrt die Sicht auf das Geschehen. Ein direkter Blick auf Arthur Schnitzlers »leichtsinnigen Melancholiker« ist unmöglich. So bleiben dem Publikum nur die sechs hohen Glaswände, die der Bühne gegenüberstehen und je nach Lichteinfall zu einer Reihe von Spiegeln werden. In ihnen wird Anatol sichtbar und gleich auch noch vervielfacht.
Wer Anatol sehen will, muss in den Spiegel schauen; und wer in den Spiegel schaut, sieht diesen Don Juan des Wiener Fin de siècle und nicht sich selbst. Bram Jansen liebt es, mit Sicht-Linien und Blick-Weisen zu spielen. Das Publikum wird damit ein dramaturgisch zentraler Teil der Aufführung. So sieht in seiner Einrichtung von Schnitzlers »Anatol«-Zyklus jeder seine eigene Inszenierung. Von jedem Platz aus ergeben sich andere Spiegelungen und Einsichten. »Der Blick auf die Bühne ist immer auch ein Blick auf sich selbst«: Davon ist der 1988 in den Niederlanden geborene Theatermacher überzeugt. Dieser Blick geht am Ende ins Innere des Betrachters.
Wir sitzen in der Bar des Oberhausener Theaters, an dem Bram Jansen seine zweite Inszenierung, Kleists »Käthchen von Heilbronn«, probt. Mit seinem dunkelblau-weiß gestreiften T-Shirt, dem Drei-Tage-Bart und den kurzen Haaren hat er eine jungenhafte Ausstrahlung. Und scheint vor Neugier zu brennen. Dieses Feuer erfüllt auch seinen »Anatol« und seine eigenwillig schlüssige Strindberg-Überschreibung »Kijken naar Julie«, mit der er sein Regiestudium an der Theaterakademie Maastricht abschloss, die seither auf zahlreichen internationalen Festivals zu sehen war.
Er möchte, »dass sich das Publikum genauso für das Stück begeistert wie ich«. Von dieser Sehnsucht zeugen seine Arbeiten, so unterschiedlich sie von ihren Ansätzen her auch sind. Er sucht nach Ideen und theatralen Anordnungen, die überraschend mitreißen. Das kann das Bühnenbild sein oder ein radikaler Bruch mit dem Text, so dass sich eine neue Perspektive eröffnet.
In der »Julie« findet Strindbergs naturalistisches Drama als stummes Spiel statt. Das Fräulein und der Knecht, dem sie sich hingibt, umschleichen und umgarnen sich in einer puppenstubenartigen Küche, während eine Stimme aus dem Off das Geschehen beschreibt und kommentiert. Wie in einer der vielen Tierdokumentationen, die im Fernsehen laufen. Der Off-Kommentar, in dem sich für Jansen »vier Perspektiven, eine soziologische, ethische, psychologische und biologische vermischen«, hebt die Themen des Dramas extrem hervor. Die Tragödie transgressiver Leidenschaft wird zum wissenschaftlich anmutenden Experiment. Die Figuren liegen wie unter dem Mikroskop.
Bevor Bram Jansen sein Regiestudium begann, war er ein Jahr lang an der Mime School in Amsterdam, die den Ideen des französischen Schauspielers und Pantomimen Etienne Decroux verpflichtet ist. Über diese Zeit, in der alles um den Körper und seine Ausdrucksmöglichkeiten ging, sagt er rückblickend: »Ich war von diesen postmodernen Formen fasziniert, habe mich regelrecht in sie verliebt, aber ich konnte mit ihnen einfach nicht arbeiten«. Erst der klassische Theaterkanon, mit dem er in Maastricht in Berührung kam, wiesen ihm den Weg. Über seine Strindberg-Variation sagt Jansen: »Ich habe mit der Psychologie begonnen und bin schließlich beim modernen Körpertheater gelandet«. Bram Jansens Theater zwischen Tradition und Postmoderne, Emotion und Analyse bringt beide Seiten zusammen, um sie »miteinander zu versöhnen«.
Jansen spricht emphatisch von seiner Ausbildung, lustvoll im Fragen und im Entdecken. Das Theater mit seiner großen Geschichte wird da zum Abenteuer. Ansteckend begeisternd. Bram Jansens Hände sind ständig in Bewegung, unterstreichen einzelne Sätze, heben Ideen hervor und scheinen immer schon dem Kopf voraus zu sein. Die Worte kommen manchmal gar nicht hinterher, was nebenbei auch am Sprechen auf Englisch und auf Deutsch liegt.
Die fremden Sprachen bremsen etwas, provozieren Momente des Innehaltens und Suchens nach dem richtigen Ausdruck. Und schärfen zugleich seine Gedanken. Man denkt an Kleists Essay »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Das Gespräch gibt den Ideen eine Form. Die Sprache, besonders eine nicht total vertraute, erzeugt eine eigene Form von Klarheit. Das gilt auch für seine Inszenierungsarbeit. Jansen: »Es ist ein Paradoxon, aber kann tatsächlich ein Vorteil sein, eine Sprache nicht perfekt zu beherrschen und zur gleichen Zeit etwas zu erschaffen, das aus dieser Sprache erwächst.«
Gerade deshalb hat ihn das »Käthchen« besonders angetan. »Kleists Sprache hat so viel zu bieten, dass man einfach wählen kann.« Die Distanz der fremden Sprache fokussiert den Blick. Erzwingt weitere Fragen, die für Bram Jansen das A und O im Theater und in der Kunst sind. Das wundersame »Käthchen«-Spiel reizt ihn zum Widerspruch – zur Lesart, die das Märchen unterläuft. Kleist als sich wild Sehnender und tief Zweifelnder. In dem Bild kann sich Bram Jansen erkennen. So wird die Auseinandersetzung mit dem Drama und seinem Autor »zur Suche, die nicht in einer Entdeckung münden muss«. Einfache Antworten, das wäre »Walt Disney, die Verfestigung eines an sich schon engen Weltbilds«. Manchmal wünschen wir uns alle solche Schlichtheit. Aber Bram Jansen weiß, »dass Nicht-Wissen und Nicht-Verstehen ein wirklich guter Seinszustand ist«.
»Das Käthchen von Heilbronn«: Premiere am 7. November 2014, Malersaal des Theaters Oberhausen, Auff.: 13. und 22. November; www.theater-oberhausen.de