Wie lässt sich in Tönen predigen? Gehören zwangsläufig religiöse Texte und die Sinne betörender Weihrauch dazu? Oder ist Musik an sich gottverbunden? Mit solchen wirkungsästhetischen Kardinalfragen beschäftigt sich von jeher die musikalische Glaubenswelt. Für Olivier Messiaen war dagegen die Antwort gar nicht so kompliziert, lautete doch sein erstes Gebot: »Alle Musik, die sich in Ehrerbietung dem Göttlichen, dem Heiligen, dem Unaussprechlichen nähert, ist religiöse Musik im vollen Wortsinne.« Geborene Heidenkinder und orthodoxe Atheisten tun sich mit diesem Credo, das Messiaen 1977 in seinem berühmten Vortrag in der Pariser Kathedrale Notre-Dame formulierte, natürlich schwer.
Andererseits schlägt Messiaens Werk auch sie in Bann, weil seine musikalischen Lobpreisungen nicht in Andacht verharren, sondern durchaus ekstatisch ausschlagen können. Mal waren es exotisch verzwickte Rhythmen, leuchtkräftige Farbakkorde und eine hochvirtuose Klangfülle, die Messiaen von der Orgelbank aufbot, um dem Himmel ein Stück näher zu kommen. Oder der begeisterte Ornithologe verwandelte seine Orchesterwerke und die Oper »Saint François d’Assise« gleich in Riesen-Volieren, in denen solche bunt gefiederten Belcanto-Sänger wie die Mönchsgrasmücke, der Weißachselnonnensteinschmätzer und die Sandlerche tirilierend sprangen und flatterten. Im Laufe von 60 Jahren entstand so ein theologisch aufgeladener Klangkosmos, mit dem Messiaen bis zu seinem Tod 1992 nichts weniger versuchte, als die Schöpfung Gottes zu offenbaren.
Der französische Doyen der Musik des 20. Jahrhunderts, der Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen zu seinen Schülern zählte, wäre am
10. Dezember 2008 100 Jahre alt geworden. Doch bereits jetzt schon nehmen die Geburtstagsvorbereitungen Form und Gestalt an. In einer saison-übergreifenden Konzertreihe porträtiert die Kölner Philharmonie den strengen Katholiken und visionären Klangmystiker mit ausgewiesenen Messiaen-Spezialisten. Bei der zyklischen Gesamtaufführung seiner Orgelwerke fehlt daher die Düsseldorferin Almut Rößler genauso wenig, wie mit Myung Whun Chung ein Dirigent, der das Königliche Concertgebouw-Orchester leiten wird, und der noch höchstpersönlich in Messiaens Codex eingewiesen wurde.
Den Beginn markiert aber mit Götz Schumacher & Andreas Grau ein Klavierduo, dessen telepathische Spielkräfte geradezu ideal sind für Messiaens einzige Komposition für vier Klavierhände. Es sind die sieben »Visions de l’Amen«, die Messiaen 1943 für sich und seine spätere Frau Yvonne Loriod komponierte. In ihnen wird der biblische Schöpfungsakt vom Chaos bis zum Gesang der Vögel beschrieben – aber auch das Leiden Christi.
Andreas Grau gibt über das Werk Auskunft, das »spieltechnisch sehr hohe Anforderungen« stelle: »Messiaen schreibt in Teilen des Zyklus äußerst virtuos. Dazu kommen eine sehr komplexe Rhythmik und polyphone Dichte. Letztendlich bleibt aber die wichtigste Aufgabe der geistige Anspruch dieser Musik, die Notwendigkeit, einen Spannungsbogen über die gesamte Dauer der sieben Visionen zu erzeugen. Wir versuchen das auch zu erreichen, indem wir diese Musik auswendig spielen. Was bei den fremdartigen, auf speziellen Modi basierenden Harmonien und den sehr komplizierten Rhythmen keine leichte Aufgabe ist.«
Dass Grau & Schumacher immer noch mit einer gewissen Ehrfurcht von dem Klavierzyklus sprechen, verwundert doch schon etwas. Immerhin gehören die »Visions de l’Amem« längst zum festen Repertoire-Baustein. Und in den 25 Jahren, in denen man sich den Ruf als einfach furchtloses Klavier-Doppel erspielt hat, standen stets schweißtreibende wie fingerbrecherische Werke aus der Neuen Musik auf dem Programm. Was besonders für zwei moderne Klassiker der vierhändigen Klavierliteratur gilt, die von zwei strengkatholischen Rheinländern stammen: Stockhausens »Mantra« und die »Dialoge« von Bernd Alois Zimmermann.
Doch ist für Götz Schumacher in beiden Stücken eher eine künstlerische als die geistig-spirituelle Nähe zu Messiaen spürbar: »Bei Zimmermann wird der Einfluss und die enge Verbindung durch die Verwendung der Messiaen-Zitate überdeutlich. In unseren Programmen kombinieren wir Zimmermann deshalb auch immer wieder gern mit Teilen der ›Visions‹ und spielen außerdem Musik der anderen Zitatgeber Bach, Mozart, Beethoven und Debussy, die ja für Zimmermann auch eine Art von Hausgöttern waren. Bei ›Mantra‹ ist dagegen doch eher der fernöstliche und weniger der katholische Einfluss offensichtlich. Obwohl Stockhausen an den berühmten Analysekursen von Messiaen in Paris teilnahm, ist er einen anderen Weg gegangen. Er ist weniger offen als Messiaen, der Vorhandenes aufgreift, verwandelt und amalgiert. Stockhausen sucht bewusst autonom in sich selbst Eigenes und Neues. Ein Werk wie ›Mantra‹ steht ganz für sich.«
So sehr das Duo mit seinem Engagement für zeitgenössische Musik in die Fußstapfen der legendären Brüder Alfons & Aloys Kontarsky getreten ist, kommt es gleichermaßen nicht ohne die musikalischen Wegbereiter der letzten drei Jahrhunderte aus. Wenn dann plötzlich Schubert auf György Ligeti oder der deutsche Barockmeister Heinrich Schütz auf Messiaen trifft, kommt es zu dramaturgisch geschickt verzahnten Hörerlebnissen. Zum Dogma sollen diese epochenübergreifenden Programmplanungen indes nicht werden. Schumacher: »Die Kombination Schütz, György Kurtág, Messiaen führt auf die ›Visions de l’Amen‹ hin. Vor allem die ›Sieben letzten Worte‹ von Schütz haben engen inhaltlichen Bezug.«
Bei ihrem Kölner Konzert wollen sie einen anderen Weg einschlagen, wollen »nicht quasi präludierend auf Messiaen vorbereiten, sondern mit Schuberts f-Moll-Fantasie und Brahms’ Haydn-Variationen zwei große gewichtige Werke des 19. Jahrhunderts dem monumentalen Zyklus der ›Visions‹ gegenüberstellen«.
Abseits aller auch formalen Fragen kommt man aber um die Kardinalfrage nicht herum: Wie gläubig muss man bei diesen Schöpfungsakten nun eigentlich sein? »Gläubig im Sinne von Frömmigkeit ist vielleicht das falsche Wort. Aber eine Sensibilität für das Religiöse und für Transzendenz ist sicher nötig, um Messiaens Werke in ihrer ganzen Dimension zu erfassen. Menschen mit einem rein materialistischen oder mechanistischen Weltbild wird manches dieser Musik verschlossen bleiben.«
GrauSchumacher Piano Duo, 19. Dezember, Kölner Philharmonie; www.koelner-philharmonie.de