TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Im Jahr 2008 veröffentlichte Der Spiegel eine kleine Notiz. Darin hieß es, dass Ruhr.2010-Chef Fritz Pleitgen nach einem Treffen mit der NRW-Landtagsfraktion der Grünen zum Thema Kulturhauptstadt freimütig wie selbstironisch bekannte: »Aber sind wir doch mal ehrlich, die besten Ideen kommen einem doch um 0:48 Uhr nach 29 Grappa und wenn Jürgen Flimm dabei ist.« Auch jene Idee, an einem Tag im Sommer die A40 für Autos zu sperren, um ein großes Volksfest darauf zu veranstalten, soll Pleitgen in einer Kneipe gekommen sein. Gemeinsam mit Jürgen Flimm, dem Theatermacher und ehemaligen Intendanten der Ruhrtriennale; bei einem Italiener in der Kölner Südstadt. Soweit die Überlieferung. Ist das Projekt »Still-Leben Ruhrschnellweg« also eine Schnapsidee, schaumgeboren im Pils-Glas?
»Da musse ersma drauf kommen« werden sich die Revierbürger gesagt haben, als sie von dem Projekt erstmals in der Zeitung lasen. Und was soll neu sein an diesem »Still-Leben« außer dem Bindestrich? Stillleben haben die meisten Autofahrer auf der A40 zweimal täglich. Und im Stau eine halbe Stunde lang ein paar Meter Wattenscheider Lärmschutzwand anzugucken, ist auch nicht gerade verlockend. Dennoch – für die Macher der Ruhr.2010 zählt das vorsätzliche Stilllegen der A40/B1 zu den Hauptprojekten mit der größten Außenwirkung. Aber worum geht es überhaupt?
Am Sonntag, den 18. Juli, von 11–17 Uhr, wird die Hauptverkehrsader des Ruhrgebiets für den Verkehr gesperrt, um einen Ort der Begegnung zu schaffen. Ein Volksfest der »Alltagskultur« soll es werden, ein gemütliches Beisammensein von Dortmund bis Duisburg. In dieser Fahrtrichtung wird auf rund 60 Kilometern die »längste Tafel der Welt« aus 20.000 Tischen und 40.000 Bänken errichtet, während die Gegenspur gen Dortmund für alle Fortbewegungsmittel, die zwar Räder, aber keinen Motor haben, freigegeben wird. Zwischen den Abfahrten »Dortmund Märkische Straße« und »Duisburg Häfen« soll sich das Ruhrgebiet selbst feiern. Und wenn der Deutsche feiert, tut er das bevorzugt auf hölzernen, fast unverwüstlichen Bierzeltgarnituren, aus denen die lange Tafel gebildet werden wird. Um einen Platz im »Still-Leben« zu ergattern, ist eine vorherige Tischreservierung nötig, denn die Gruppen und Privatpersonen sollen aktiv mitmachen und eigene Programmbeiträge beisteuern. Die Veranstalter wünschen sich Gesang, Tanz, Musik, Kabarett, Theater, Lesungen oder auch »einfach nur typisches Essen« – und dass ein Nebeneinander der Alltagskulturen entsteht, wenn der Fußballklub neben den Taubenzüchtern sitzt, die wiederum mit Hip-Hoppern kommunizieren. An jedem Tisch finden 10 Personen Platz (Einzelplätze werden nicht vergeben), pro Tisch wird eine Teilnahmegebühr in Höhe von 25 Euro fällig. Für die Kultur-Sause wird die A40 am 17. Juli ab 22 Uhr gesperrt; am 19. Juli ab 5 Uhr wird sie wieder für den Verkehr geöffnet. Soweit die Theorie.
Wie das in der Praxis aussehen wird, wenn 20.000 Tische auf die Autobahn geräumt werden, wird sich zeigen. Ein Logistikunternehmen, das auch als Sponsor auftritt, hat schon fleißig geübt – dennoch erschließt sich das gewaltige Vorhaben erst richtig, wenn man die Strecke mit dem Auto abfährt. Zudem müssen auch die Besucher auf die A40 geleitet werden. 3.000 Schilder werden deswegen angebracht. Als Zugänge fungieren die Auffahrten, und mit dem Bahnhof Wattenscheid hat das Projekt einen direkten Zugang mit Regional-Express-Anschluss. Die »Ruhr.2010« empfiehlt sowieso, mit öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen. Allein für den Tischaufbau werden 60 Lkw und 140 Gabelstapler eingesetzt. 5.000 Menschen helfen beim »Still-Leben«; dazu zählen 3.000 Freiwillige des THW und über 1.000 Ruhr.2010-Volunteers. Zudem werden 3.000 sanitäre Anlagen entlang der Strecke aufgestellt, da die Entfernungen zwischen den normalen Rastplätzen zu groß sind. Logistisch wird das klappen, Mitte Mai gab es auf der A540 bei Jüchen, die nur 7 km lang ist, eine erfolgreiche Generalprobe – auf dem Straßenstück schrottet sonst RTL Autos für seine Serie »Cobra 11 – Die Autobahnpolizei«.
Das »Still-Leben« wird gerne als gigantische PR-Maßnahme und geschickte Pleitgen-Show belächelt, mit der die Kulturhauptstadt einen kleinen Tagesschau-Beitrag bekommt, kurz vor dem Wetter. Andere unken, dass das Projekt wenig nachhaltig sei, und man das Geld lieber in Kulturinstitutionen stecken solle, die finanziell ums Überleben kämpfen. Dennoch: Das Projekt steht, und vielleicht kommt am Ende dasselbe dabei heraus, wie bei der offiziellen Ruhr.2010-Eröffnung im Januar auf der Zeche Zollverein. Auch dort hieß es im Vorfeld, dass das alles nichts bringen werde, und wer denn auf Idee gekommen sei, ein Volksfest im tiefsten Winter zu veranstalten. Die, die dabei gewesen sind, waren sich hinterher einig: Einen besseren Auftakt konnte es gar nicht geben. Das Ruhrgebiet kam zusammen, man fror und staunte gemeinsam, meckerte nicht über die Warteschlangen und konnte hinterher sagen: So fühlt es sich also an, Kulturhauptstadt zu sein.
Vielleicht gelingt das auch dem »Still-Leben« – Menschen in die Kulturhauptstadt einzubinden, die sonst nicht ins Museum Folkwang gehen oder keine Karten für das Henze-Projekt kaufen würden. Könnte klappen. Schon jetzt kann man sich auf der Projekt-Website die feststehenden Teilnehmer anschauen. 7.000 Gruppen haben durch ein Losverfahren bereits einen Tisch ergattert. Das ganze Revier mit seinen Menschen und teils wunderlichen Vereinen scheint vertreten: Der deutsch-türkisch-griechische Freundeskreis »Bospo(Ruhr)us« (doch, hier geht das) bietet Kulinarisches, Star Wars-Anhänger aus dem Pott halten ein Fantreffen ab, soziale Institutionen wie die AWO oder der Kreuzbund stellen ihre Arbeit vor. Auf den weiteren Kilometern trifft man die Bewohner der Duisburger Werrastraße, die Schreberjugend Dortmund und die »Schalker Trommelgarde«. Dazwischen Musikgruppen, Kindergärten, Kegelclubs wie »Fall um« und am Kreuz Kaiserberg feiert eine Uschi genau an diesem Tag ihren Geburtstag. Und so weiter. Ganz normale Leute eben, die der Welt zeigen können, wie diese zersiedelte Möchtegern-Metropole mit ihren Industriedenkmälern, Autobahnzubringern und Baumärkten eigentlich tickt.
Apropos Baumarkt: Hier hat es Ruhr.2010 geschafft, Alltagskultur und Historie zusammenzubringen. Die A40 ist ja nicht irgendeine Straße, sondern als Querverbindung Jahrhunderte alt, schließlich folgt sie der Route der alten Handels- und Salzstraße Hellweg. Die Bierzeltgarnituren, die am 18. Juli das »Still-Leben« bilden, kann man schon jetzt käuflich erwerben und reservieren, auf dass sie auch nach dem großen Tag weiter in Schrebergärten und Partykellern Verwendung finden. Eine Baumarktkette bietet die Tische mit Ruhr.2010-Logo für 49.99 Euro an. Und jetzt raten Sie mal wo? »Bauhaus«? »Obi«? »Praktiker«? Natürlich nicht. Sondern, und man ahnt es bereits – bei »Hellweg«.
»Still-Leben Ruhrschnellweg« 18. Juli 2010, 11–17 Uhr. www.ruhr2010.still-leben-ruhrschnellweg.de