TEXT: ANDREAS WILINK
Es ist ein Kampf. Er kostet Überwindung und die Selbstachtung. Sandra, die seit Monaten wegen ihrer Depression krank geschrieben war, soll ihre Arbeit verlieren. Das Unternehmen hat während ihrer Abwesenheit die Belegschaft vor die Wahl gestellt, auf ihre Jahresprämie von jeweils 1000 Euro zu verzichten, sonst müsste der Arbeitsplatz von Sandra gestrichen werden. Beides geht nicht – die Konkurrenz aus Asien, Einsparungszwänge und so weiter. Ihre Stelle, Sandra selbst ist also 16.000 Euro wert. Der Vorarbeiter hat die Gruppe der 16 Kollegen unter Druck gesetzt. Das Votum lautete gegen sie. Nun soll die Abstimmung erneut – jetzt aber geheim – wiederholt werden: am Montag. Sandra hat das Wochenende Zeit, eine Mehrheit umzustimmen und für sich zu gewinnen. Es fällt der zweifachen Mutter schwer, sie fühlt sich als Bittstellerin, schlimmer: »Ich existiere nicht. Ich bin nichts.« Ihr Mann Manu motiviert sie. Ohne Tabletten, die ihre Stimmung aufhellen und Energie zuführen, geht es gar nicht. Sie brauchen das monatliche zweite Gehalt, für das Haus, für die Kinder – so wie alle, die mit der Prämie kalkulieren.
Lässt sich ein Akt der Solidarität einfordern? Sie klappert die Adressen ab. Alle haben gute Gründe: Bei dem einen studiert die Tochter; die andere hat gerade ihre Ehe aufgegeben und muss sich neu einrichten; eine Frau lässt Sandra gar nicht herein; einer weint und schämt sich; einer hat Angst; einer rechnet vor, dass die Summe für ein Jahr Gas und Strom reichen würde; bei jemandem kommt es zu Streit und Gewalt; eine weitere nimmt die Auseinandersetzung mit ihrem Mann über die Prämie zum Anlass, ihn zu verlassen.
Bei aller sozialen Genauigkeit und Beschreibung der ökonomischen Krise und dem Druck des Neokapitalismus bekommt der Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne etwas geklärt Gleichnishaftes. Bibli-sches Ausmaß, erinnernd an die Geschichte von der Suche nach einigen Gerechten in der Stadt. Oder auch an die moralische Entscheidung in Fred Zinnemans »Highnoon«, wenn Marshall Kane die Klinken putzt, um nicht allein gegen die Verbrecherbande zu stehen. Man darf sagen, dass »Zwei Tage, eine Nacht« ein gutes Ende nimmt, ohne ein Happy End zu bieten. Aber Sandra, deren konkret alltäglichen Passionsweg Marion Cotillard ganz großartig als Drama en miniature spielt, hat ihre Verzweiflung und Mutlosigkeit überwunden und hat sich nicht verraten.
»Zwei Tage, eine Nacht«; Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne; Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Catherine Salée; Frankreich/ Belgien 2014; 95 Min.; Start: 30. Oktober 2014.