WIE ZUM AUSKLAPPEN
Kiplings »Dschungelbuch« in Aachen
Die Schlange Kaa als Tunte – wenn Rudyard Kipling das gewusst hätte. Aus der tödlichen Bedrohung für das Menschenkind wird in Aachen ein Elton-John-Verschnitt in hautengem Glitzerkleid. Die Kids finden ihn nicht so lustig. Da kommen Oberst Hathi und seine Elefanten-Kompanie schon besser an. Immer wieder stoßen sie zusammen, verlieren im Gleichstampf die Richtung. Ihre Rüssel hängen an beweglichen Stangen, wie im Marionettentheater. Dass Bühnen- und Kostümbildner Andreas Becker sein Handwerk bei der Augsburger Puppenkiste gelernt hat, merkt man immer wieder. Hinter Büschen und Bäumen werden die Strippen gezogen, an denen Schmetterlinge und Schlangen hängen. Auch sonst wirken die Kulissen wie ein buntes Ausklappbuch. Oder wie ein Abenteuerspielplatz. Zwischendurch schwingt Mogli an einer Liane durchs Bild, die Affenbande turnt in einer Kletterburg rum, Panther Baghira schaut vom Baumhaus herab.
Wie die einzelnen Dschungelbewohner ticken, lernt man nebenbei: Welches Tier macht welche Laute, welches lebt im Rudel, welches ist friedlich, welches aggressiv? Über allem schwebt die Frage, was denn Mogli von den Tieren unterscheidet. Seine Rückkehr in die Welt der Menschen erzählt die Aachener Fassung, wie der Disney-Film von 1967, also mit viel Musik. Schade nur, dass der Originalsoundtrack fehlt. Gassenhauer wie »Versuch’s mal mit Gemütlichkeit« oder »Ich wäre gern wie du« hätten dem Stück gewiss den letzten Kick gegeben. Andererseits macht das »Dschungelbuch« auch in dieser Version Spaß, und wer den Zeichentrickfilm nicht kennt, wird sich an der neuen Musik ohnehin nicht stören. | JUK
Ab 7 Jahren; zahlreiche Termine zu unterschiedlichen Tageszeiten im Dez. 2011 sowie vom 7. bis 10. Feb. 2012, www.theater-aachen.de
HEXE AUF HARLEY
»Die schöne Wassilissa« in Dortmund
Patchwork wird immer mehr zum familiären Normalfall, der Typus der bösen Stiefmutter aber ist seltsamerweise ausgestorben. Auf der Bühne des Dortmunder Schauspielhauses jedoch ist Patchwork nur die Decke, unter der das Mädchen Wassilissa schlafen muss, deren häusliches Beziehungsgeflecht indes ist klassisch märchenhaft: Mutter stirbt, Vater heiratet eine andere, die Wassilissa quält und wie eine Magd traktiert, während sie die eigene Tochter verzärtelt. Die Aschenputtel-Ausgangslage. Gott sei Dank hat die Originalmutter Wassilissa eine Puppe hinterlassen, die das Mädchen nur füttern muss, um von ihr Durchhalteweisheiten zugeflüstert zu bekommen à la »Morgen ist auch noch ein Tag«.
»Die schöne Wassilissa« speist sich aus Märchenstoffen, die der »russische Grimm« Alexander N. Afanassjew im 19. Jahrhundert sammelte. In der Dortmunder Bühnenfassung ist der Fortgang der Geschichte um Demütigung und Triumph eines Underdogs im Sinne heutiger Pädagogikkonzepte entgrausamt: Während dort die verhasste Stiefmutter samt Tochter den Flammen der Rache anheimfallen, verschwinden hier beide einfach aus der Story. Wassilissas Erlöser, der mittelalterliche Sagenheld Ilja Muromez, lagert zunächst seit ewig faul auf einem Dutzend Matratzen, was alle Kinder im Saal zum Lachen bringt (warum wohl?). Von einem weisen Mann aufgerüttelt, lernt er gehen (erneuerte Begeisterung) und beschließt, das Land vom bösen Räuber Nachtigall zu befreien. In dessen Hände ist – über den Umweg einer Gefangenschaft bei Baba Jaga, einer Hexe auf einer Harley – inzwischen auch Wassilissa geraten, in deren Gesangskünste sich der Held verliebt hat. Er siegt im finalen Showdown, weil ihm Wassilissa mit ihren Koloraturen zu Hilfe kommt, die die Räuber – wohl eine Horde Romantiker – lähmen.
Wie so oft im Weihnachtsmärchen spielt auch in Dortmund das Bühnenbild die Hauptrolle, das mit einem allerliebsten Wald und einer grimmig-stimmigen Hexenhöhle trumpfen kann. Gestrig aber wirken nicht nur der allzu stark verlieblichte Originalstoff, sondern auch die Gesangseinlagen, die popsozialisierten Schulkindern märchenartig vorkommen müssen. | UDE
Ab 6 Jahren; Vorstellungen im gesamten Dezember und Januar; www.theaterdo.de
DER HAKEN AN DER SACHE
»Peter Pan« in Düsseldorf
Peter rockt. Er sieht in seiner grünen Uniformjacke und mit den schwarzen Locken, besonders von fern und hinten betrachtet, ein bisschen aus wie Michael Jackson. Auch wenn er den Moonwalk nicht beherrscht, den Thrill hat Emre Aksizoglu ganz gut raus. Sein Widersacher Hook (Bernhard Dechant), der Pirat mit der Hakenhand und der panischen Angst vor dem tickenden Krokodil, wiederum ähnelt Johnny Depp in »Sleeping Hollow«. Wenigstens die Fee Tinkerbell ist kein Klon von Julia Roberts, sondern bei Xenia Noetzelmann wie hingetuscht von George Grosz: ein hibbeliges, kesses Party-Girl in Gelb-Schwarz, das sich bei der Vorstellung seines Miniatur-Haushalts einmal quer durchs Kinderkult- und -kulturprogramm zappt.
Andererseits hätte man der Inszenierung von Markus Heinzelmann durchaus gewünscht, so geschmeidig emotional, rasant und phantasievoll zu funktionieren wie Spielbergs eigenwillige Deutung des Buches von James Matthew Barrie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus bewegt sich leider vor allem nur die Bühne: Sie ist groß, hoch und tief, sie kann viel, sich drehen, heben, senken. Bewegen allerdings tut die Geschichte vom Jungen, der nicht erwachsen werden will und mit den pilzköpfigen Lost boys, die nebenbei unter der Leuchtschrift »Life is a gift« Musik und ziemlich Radau machen und parallel unter Rokoko-Perücken die Piratenbande (ebenfalls mit erheblicher Lautstärke) darstellen und im Nimmerland autonom, aber einsam und ohne mütterliche Nestwärme sind, kaum. Was umso mehr erstaunt, als doch die Ambition der neuen Intendanz darin besteht, Jugendtheater und erwachsenes Schauspielhaus zu durchmischen.
Aber es fluppt nicht, obwohl oder gerade weil Animateur Hook an der Rampe Stimmung zu machen und um Einverständnis zu heischen sucht. Es hat keinen Charme, ist nicht frech und flink genug, seltsam lieblos, steifbeinig und steifmundig und plötzlich vorbei, ohne dass Wendy (Ninja Stangenberg) und Peter Gelegenheit hätten, ihre Angelegenheit befriedigend zum Abschluss zu bringen. So gehen nicht nur in einem der Songs »99 Luftballons die Puste aus«, sondern ebenfalls den 90 Minuten, was naturgemäß die Kinder weniger verspüren, als deren betagte Begleiter. Die Kurve kriegt die Aufführung am ehesten dann, wenn Hook in einem Ein-Mann-Gummiboot-Scooter umher brettert. | AWI
Ab 6 Jahren; zahlreiche Vorstellungen im Dez. 2011 vormittags, nachmittags und abends sowie am 15. Jan. 2012; www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
REISE INS EIS
»Die Schneekönigin« in Bonn
Das Gesicht fürchterlich fahl, die silbernen Haare in eisigen Spitzen hoch aufgestellt. Und dann noch dieser unheimliche Hall in der Stimme. Eigentlich müsste man davonlaufen vor dieser gruselig geheimnisvollen Erscheinung. Nicht so Kai, denn den hat’s bös’ erwischt. Seitdem der Schneesturm jenen scharfen Splitter in sein Auge trieb, ist der Junge wie ausgewechselt: Die »schönste Landschaft« sieht für ihn aus wie »gekochter Spinat«, die beste, netteste Freundin Gerda ist nur noch lahm, fett, hässlich. Die seelenlose Schneekönigin aus dem hohen Norden dagegen so attraktiv, dass Kai ihr ohne zu zögern ins tiefgefrorene Königinnen-Reich folgt.
Der magische Einstieg in ein großes, buntes Abenteuer: Als solches inszeniert Barry L. Goldman das doch eher komplizierte Kunstmärchen von Hans Christian Anderson in den Bonner Kammerspielen. Durch pralle, märchenhafte Bilder, die sich in goldenen Riesenrahmen auf die Bühne senken, folgt man Kais unerschrockener Freundin Gerda – ein Mädchen mit Herz, Kraft und Visionen –, das sich aufmacht, den verschollenen Gefährten zu retten. Ihre mutige Mission führt durch wallende Wellenbäder und knallige Blütenträume. In einem plüschigen Schloss begegnet Gerda einem Haufen urkomischer Vögel, voran Protokollrabe und Hofkrähe, die gemeinsam höchst amüsant einen Lobgesang aufs Schnäbeln anstimmen.
Die gelegentlich eingestreuten Lieder, eigens komponiert von Michael Barfuß, lockern auf und machen Spaß. Eine stimmungsvolle Bereicherung bietet auch Ella Rohwer, die auf einem Balkon im Bühnenraum sitzt und das Geschehen mit ihrem Cello untermalt. Alles in allem ein Weihnachtsmärchen, das in rund zwei Stunden bietet, was man erwarten kann: wunderbare Bühnenbilder, originelle Kostüme, mitreißende Musik, ein engagiertes Ensemble. Gefühl, Gefahr, Witz. Und schöne Botschaft: Man muss nur wissen, was man will und sich trauen. Dann wird am Ende alles gut und man kann den entzauberten Kai aus der Kälte führen. | STA
Auff. im gesamten Dez. und Jan.; zahlreiche Schulvorstellungen; www.theater-bonn.de