// »Ich hasse Manifeste«, sagt er und knallt, geradezu lutherisch und wie mit dem Hammer, wenn auch geschmeidig geführt, Sätze heraus wie Thesen und Dogmen. Sie verkünden das Gedankengebäude und Glaubensbekenntnis des August Diehl auf persönlich berückende, eigenwillige und konsequente Weise. Dass dies ohne jede Wirkungsabsicht geschieht, sondern im Kneipengespräch bei Bier und Zigarette beiläufig mitläuft, macht es nur überzeugender.
Man hätte mit ihm vermutlich über mancherlei sprechen können, über Robert De Niro und »Taxi Driver«, über die Landschaft von Diehls Kindheit, die Auvergne. Darüber, wie es sich für ihn in Berlin lebt, wie er seinen Alltag organisiert, von dem er gelegentlich behauptet, dass der normal und ziemlich unspektakulär sei, womit er auch – woran ihm gelegen scheint – ablenken kann vom Privaten. Oder auch sprechen über die Figur des James Tyrone und die weitere Besetzung in Eugene O’Neills »Ein Mond für die Beladenen«. Das Drama probt er, mit Ehefrau Julia Malik und Vater Hans Diehl als Partnern, in Luxemburg für die Ruhrfestspiele. Frank Hoffmanns Inszenierung hat am 15. Mai in Recklinghausen Premiere. All das wären Möglichkeiten gewesen.
Stattdessen fallen Sätze wie: »Ich hasse Ideen. Ich hasse Situatiönchen im Theater. Aktualität hat im Theater nichts verloren – es ist archetypisch, ewig, mythisch.« Kommen ganz andere Kaliber auf den Tisch, nachdem Diehl seinem Gesprächspartner mit abschätzendem Blick entgegenhält: »Sie wollen ja richtig Einblick in die Küche.« Wie sieht es aus in der alchemistischen Versuchsküche, dem Laboratorium des Schauspielers, seiner Wechsel- und Studierstube?
Worüber reden mit einem Schauspieler? Über Rollen, nicht so sehr über einzelne, vielmehr über das Spiel an sich, Methoden, Mechanismen, Verhaltensweisen, Verwandlungen. Diehl subsumiert das Rüstzeug, Ausdruck und Absicht unter dem weiter gefassten englischen Begriff sympathy, in dem das hochherzige compassion mitschwingt.
Seine Schauspiellehrerin Lore Stefanek, erzählt er, habe immer gesagt, dass jeder Mensch seine »Schützengräben« habe. Das könnten Requisiten sein oder ein abrupter Themenwechsel, hinter die er sich duckt. »Wir sind so geeicht, im Leben wie auf der Bühne, bestimmte Schutzmechanismen anzuwenden.« Als Schauspieler habe man nur eben die Tendenz, Dinge offen zu legen, etwas verdeutlichend erklären zu wollen und mit »psychologischen Waffen« zu hantieren: »Ganz verkehrt. Alles, was in einem ist, sieht der Zuschauer.« Das Verborgene tritt ohnehin zu Tage.
»Jeder hat seinen Fahrplan und den fährt er.« August Diehl, Jahrgang 1976, Spielbreite 27 bis 37; ein Dutzend Rollen an den bedeutenden Bühnen von Hamburg und Berlin bis Wien; etwa 30 Filme. Ein Gesicht und ein Körper – modelliert neben vielem anderen von Schiller, Tschechow und Koltès, in den Masken von Karlos, Kostja und Roberto Zucco, dem Mörder (für ihn »jemand, der keine Brücken schlägt zum nächsten Vorgang, der akausal agiert, dessen Tötungstrieb ein plötzlicher Einfall ist«).
Diehl hat Großmeister wie Peter Zadek, Klaus-Michael Grüber und Luc Bondy erlebt, Martin Kusej, Laurent Chétouane und weniger spektakuläre Künstler. Aber »wenn ich zu arbeiten anfange, denke ich nicht mehr in Liga-Kategorien.« Das will er gar nicht bescheiden oder demütig verstanden wissen, vielmehr zweckdienlich. Obwohl er zugesteht, bei Beginn »unglaublich verwöhnt worden zu sein« mit seinen Regisseuren. Das fehle ihm bisweilen: »die Brisanz und Gefährlichkeit, das Risiko«
Zum Beispiel Zadek. Als der ihn vor zehn Jahren zum Vorsprechen bestellte, in Salzburg, war da ein riesiger Ballsaal und die Regie-Legende stand hinten an einem Fenster mit dem Rücken zu dem Eleven. Da wusste der gleich: »Auf jeden Fall habe ich es hier mit Theater zu tun.« Auch dann auf der Bühne, als die Karriere des August Diehl mit einem Schrecknis begann, einem Schock für jeden, der Sarah Kanes »Gesäubert« in Zadeks Regie gesehen hat. »Gesäubert« – blutige, krude Meditation über Schande, Scham, praktizierte Grausamkeit und verweigerte Gnade. Wiederauferstehung von Pasolinis »100 Tage von Salò«, wenn nicht Schlimmeres. Ein Höllenpanorama des 20. Jahrhunderts, verdichtet auf 80 Spiel-Minuten.
August Diehl war eines der Opfer von Tinker, dem technokratischen Teufel: Robin, das Milchgesicht, mädchenhaft und märchenhaft zart und scheu, anmutig und zutraulich; etwas zurückgeblieben und doch weiter als die Übrigen. Kurze Freude, Zögern, Angst, Erkennen und Sich-Ergeben ins Unausweichliche des Todes spielte er mit einer instinktiven, vom Herzen getragenen Wahrhaftigkeit. Das vergisst man nicht. Mehr als ein Kunststück, als Method Acting, Handwerk und Technik. Dafür lege ich den kompletten Leonardo DiCaprio bei Martin Scorsese beiseite.
Vielleicht war es die Unschuld des Anfangs, die half, diesem Robin Gestalt zu geben. In welchen Seelenwinkeln lagern die Fragmente eines solchen Menschenkindes? Oder die pathologischen Partikel späterer Rollen und Figuren? »Man sieht sich selber so selten von außen«, sagt Diehl. Auch habe er wenig Lust über sich nachzudenken.
Noch einmal: Wo findet jemand den Exzess und den Abgrund, der aufwuchs im Ferien-Kindheitsparadies, dessen Duft von Ginster er heute noch in der Nase hat, in glücklichen Umständen mit Eltern und Bruder, früh an Erfolg gewöhnt entlang einer ruhmreichen Reihe von Preisen und Trophäen, der jung heiratete und im bürgerlichen Bohème-Berlin wohnt. »Bei dieser Aufzählung kann ich mit mal den äußeren Blick aufnehmen und es ebenso betrachten«, räumt er ein. Allein, mit »Milieuprägung« käme man nicht weit. Er wisse nur, »ein Empfinden von Entwurzelung« für sein Leben zu haben.
Extremismus bewahren die Rollen. In denen ist er weit gegangen. Schmerz und Wahn, Qual, Verzweiflung, Isolation, Zerrissenheit begleiteten seine Figuren, zehren sie auf, löschen sie aus. Bei Sarah Kane war es ein Uni-Campus, von Zadek klinisch ausgekühlt; es kann eine Schule in der Provinz, der elegante Salon einer Berliner Villa, eine Farm im Amerika der 1930er/40er Jahre sein, wie sie Walker Evans and Company in Sepiafarben fotografiert haben. Es kann überall passieren, dass der Alltag Ungeheures gebiert, nicht nur in den Büros der Schreibtischtäter oder in den Lagern und Anstalten, die sich Systeme bauen, um den Menschen gefügig zu machen und zu brechen.
Diehl hat den Nazi und den jüdischen Häftling gespielt, den suizidalen Schwärmer, den Mörder. Kanaille und Künstler. Etwas anderes als den Tod fand er nicht so leicht in seinen Rollen. »Heute ist wieder Sterben dran«, kam ihm an einem letzten Drehtag dann schon mal in den Sinn. Und er hängt Ciorans berühmte Maxime »Leben heißt tterben lernen« an. Wobei er genauestens differenziert, wen und was er spielt.
Eugene O’Neills James Tyrone sei ein sterbender Mensch – das heißt, seine gesamte Existenz ist von dem Prozess durchdrungen, Zwie- sprache zu halten mit dem großen Unbekannten. Ein Alkoholiker und verkrachter Schauspieler, ein Sonderling, der weiß, dass sein Leben vertan ist, der aber den geliebten Menschen, die mütterliche Josie Hogan, nicht mitzieht ins Verderben, sondern Verzicht übt. Wieder ein Angeknackster. Ein weiterer erwartet uns demnächst. Eine komische Figur und ins Fatale verkehrte Künstlernatur:
August Diehl als Christian Buddenbrook in Heinrich Breloers Thomas-Mann-Adaption: noch »einer, der nicht leben will« … Gegenbild zu seinem Darsteller, den mattiertes Leuchten umgibt. Selbst im düsteren Probenraum des Luxemburger Nationaltheaters, durch den Diehl tigert, Kraftakte um eine Mitte sucht, die sich noch nicht definiert hat, versunken abseits auf einer Bank hockt, wer weiß, ob in gespanntem Lauern, geistesabwesend oder lässig gelangweilt; wer weiß, wann da noch James Tyrone oder schon August Diehl sitzt. Und wieder wundert man sich, wie aus solch betriebsbedingt produziertem Leerlauf der Antrieb kommt, mit dem nach wenigen Wochen ein Ziel erreicht wird. Wenn er auf der Bühne stehe, sagt Diehl, sehe er immer auch, dass er und wie er seinen Auftritt habe – als Mensch«. Eine Montage aus Haltungen, Vor-Bildern, Zitaten. Der Schauspieler mache nur bewusst(er), was jeder ohnehin tue, demaskiere es, indem er zeigt, dass er spielt.
Es sei doch kurios. »Wenn es gut läuft, überrascht das Theater, obwohl dort alles determiniert ist.« Jeder Gang, jeder Satz, jede Bewegung fixiert. »Desorganisiert zu sein, ist immer das schönste.« Spricht er halblaut vor sich hin, als das Team den Durchlauf von O‘Neills »Mond« rekapituliert.
Organisation und Anarchie, Ordnungssystem und Chaos: Wie soll man bei dieser Durchmischung durchblicken, wenn man’s nicht gelernt hat. August Diehl ist Absolvent der Ernst-Busch-Schule. An der Berliner Kaderschmiede wird konkret Handwerk unterrichtet. »Dass man einen Vorgang, einen Dialog ganz klar auflöst, so dass man darauf zurückgreifen kann, denn ohne Formung macht es Flutsch.« Gut und schön, aber »auch etwas langweilig«. Es lässt die Spielsüchtigen oft beängstigend perfekt wirken, als vermöchten sie alles, schüttelnd aus dem Handge- lenk. Einerseits muss das Professionelle akzeptiert werden, jenseits kreativer Phantasterei und Flausen. »Musische Menschen sind oft künstlerisch ganz unbegabt. Die finden nicht ihren Kanal«, weiß Diehl. Aber das Fassbare, Abrufbare ist noch nicht der Weisheit Schluss. Was also dann?
Spielen ist »wie ein Tanz«, wenn man aufhört zu zählen, den einzelnen Schritt nicht mehr beachtet, Kontrolle und Bewusstheit vergisst. Diehl benutzt Begriffe wie »Hingabe«, »Selbstaufgabe«, »Selbstannahme«, egal wie der eigene Bühnen-Zustand momentan sei, ob konzentriert oder mal lasch. Deshalb brauche er den »Thrill des Lampenfiebers«, ja, »die Angst«. Man dürfe sich nicht zu sicher sein. »Ich kann nichts planen. Am Theater muss nichts funktionieren. Anders als beim manipulativeren Film geht es nicht um das Ergebnis, sondern darum, einen spannenden Vorgang zu erleben«. Zadek habe ihm mal gesagt: »Sei doch nicht so ehrgeizig!«
Theater als Taumel. »Man ist dann wie ein Opfer von etwas, das größer ist, steht im Dienst einer Sache. Der ganze Beruf ist doch eigentlich nur: die anderen um einen herum, und du in der Mitte oder am Rand, jedenfalls mit dabei.« Eine kollektive Erfahrung, etwas Elementares.
Plötzlich arretiert unser Gespräch bei Rausch- zuständen anderer Art: dem Krieg, der Revolte unterm Hakenkreuz, dem Wahn von Masse und Macht, der totalen suggestiven Verführung – und der eigenen Lust daran. Das Schöne wie Schreckliche an seinem Beruf (parallel zu den historischen und sozialpsychologischen Phänomenen) sei, dass »keine moralische Hal- tung gegenüber den Vorgängen existiert. Man kann alles herauslassen. Positiv genommen bedeutet das: Loyalität«. Und negativ verformt? Da mündet es in Bestialität. Das »Mephisto«-Prinzip.
Diehl reflektiert diese Zusammenhänge überhaupt nicht vom Elfenbeinturm des Künstlers herab, sondern so intelligent, dass man sich wünschte, ihn in der gewiss nicht ausbleibenden Verfilmung von Jonathan Littells »Wohlgesinnten« zu sehen. Er wäre Max Aue gewachsen.
Auch wenn es irrational wird, man darf bei dem Filmstar Diehl an Aura denken. Die Kamera kann ein Geheimnis kreieren, ohne dass sie das Material, die Substanz dafür bei jedem fände. Diehls Leinwandpräsenz ist robust genug, dass sie unabhängig von den Qualitäten eines Drehbuchs oder Regisseurs Bestand hat. Wie der aktuelle Film von Andreas Kleinert, »Freischwimmer«, beweist. Diehl bewegt sich darin wie ein Fremdkörper, wie ein E.T. vom Erden-Stern zwischen lauter Schemata. »Liebe oder töte mich« lautet die Formel, die Henker und Opfer verbindet. Die Dinge kehren zurück. Diehl wurde, damals knapp 23, berühmt mit Sarah Kanes Robin. In »Freischwimmer« ist er der Lehrer Martin Wegner, der Irrsinn und Sehnsucht nach Stille hinter den Bartfuseln des verschrobenen Einzelgängers hegt, bis zum Ausbruch. Kleinert hat über seine Ambition den Kopf verloren.
Die eine oder andere Mainstream-Ware mit Diehl wie »Anatomie 2« oder »Tattoo« begnügte sich mit Unterhaltungsanspruch. Prätentiöse Projekte wie die Mitternachtssex-Schmonzette »Ich bin die Andere«, in der Diehl als ahnungsloser Gespiele einer Männerphantasie namens Katja Riemann erliegt, lassen ihn diskret schweigen. Das weich gezeichnete Dandy-Drama »Was nützt die Liebe in Gedanken« mit dem »Traumpaar« Diehl / Brühl als schwermütig-morbide jeunesse dorée im erotisch verwahrlosten Jahr 1927 hat etwas von Jugendsünde. Ernsthafte Erzählstücke und historische Recherchen wie Schlöndorffs »Der neunte Tag«, »Birkenau und Rosenfeld« und die Hollywood-reifen »Fälscher« ließen mehr Spielraum. Glücksfälle waren die beiden Filme von Hans-Christian Schmid, »23« sowie »Lichter«. Im ersten ist Diehl der fanatische, zwanghafte Computerhacker Karl Koch, im Folgenden der für die Geschäfte und Kompromisse des Illusionen zerstörenden Kapitalismus nicht genügend wendige und gerissene Philipp.
Diehls Bewegung zur Normalität und in mittlere Zonen des Gefühlslebens steht ihm – auch in Martin Gypkens’ gelungener Judith-Hermann-Verfilmung »Nichts als Gespenster« – gut zu Gesicht, wenn er als USA- Tourist Felix augenmüde und mit prüfend skeptischem Gleichmut seine Beziehung zu Ellen betrachtet.
Welche Filme interessieren den Kinogeher Diehl? »Die ein emotionales Erkenntniserlebnis auslösen und ich merke: Da bin ich ja selbst drin.« Identifikation also. Auch mit den eigenen Arbeiten. Der Theater- und Filmkritiker bewertet, ebenso wie der Zuschauer, das fertige Produkt. Der Schauspieler, der den Ablauf des Werdens begleitet, hat ein ganz anderes Erleben. »Der Vorgang an sich macht Spaß. Das Resultat ist ver- schieden von seiner Verfertigung. Es ist wie eine Reise, von der fremde Leute sich später Urlaubsbilder anschauen und sie langweilig finden können.« Der Reisende hingegen hat seine Erinne- rungen. Deshalb auch sagt August Diehl: »Keine einzige Arbeit war verkehrt. Alles war richtig.« Und verabschiedet sich nach drei Stunden mit »Es hat Spaß gemacht.« In seiner Definition darf man es als Kompliment nehmen – und kann es so voll und ganz zurückgeben. //
»Ein Mond für die Beladenen«: 15. bis 19. Mai 2008; www.ruhrfestspiele.de