»Niemand ist mehr sicher«: Die Theatersaison beginnt. Der zitierte Satz stammt aus Roland Schimmelpfennigs »Ambrosia« – gemeint ist der Fall aus dem sozialen Netz. An Bühnen in Nordrhein-Westfalen haben drei neue Stücke zum Thema Arbeit von zwei der bekanntesten deutschen Dramatiker Premiere. Am Grillo-Theater wird am 24. September »Ambrosia« uraufgeführt (Regie Anselm Weber, der neue Essener Intendant); tags darauf bringt Burkhard C. Kosminski am Düsseldorfer Schauspiel Moritz Rinkes aktuelles »Café Umberto« heraus; bevor am 4. November in Bochum Schimmelpfennigs »Angebot und Nachfrage« erstmals aufgeführt wird (Regie Jan Langenheim).
Im K.WEST-Gespräch fordert der NRW-Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff, die Kunst müsse wieder mehr politisch werden (siehe S. 4). Hier ist die Antwort: Die beiden letztgenannten Stücke zeigen in aller Deutlichkeit die wirtschaftlichen, sozialen, mentalen und psychischen Verwüstungen, die der flagrante Mangel an Arbeit unter den Menschen in Deutschland anrichtet – bei Rinke als Paargeschichten, bei Schimmelpfennig als gefühlsverdichtetes Duo-Drama. Während »Ambrosia« groteske Figuren beim Großen Saufen vorführt, die rein auf Gewinn und Geld fixiert sind – die Kehrseite der Reduktion menschlicher Wirklichkeit auf den Arbeitsbegriff.
Moritz Rinke wurde 1967 geboren; vor zwei Jahren hatten seine »Optimisten« in Bochum ihre Uraufführung. Sein Stück »Vineta« kommt im Herbst als Film in die Kinos. Roland Schimmelpfennig ist ebenfalls 1967 geboren, bekannt wurde er mit »Die arabische Nacht«, das auch auf den Mülheimer Theatertagen zu sehen war. Beide Autoren leben in Berlin, wo auch das Gespräch stattfand.
Interview: Klaus Dermutz
K.WEST: In Ihren Stücken hat die Arbeit oder der Mangel an Arbeit einen großen Einfluss auf die psychische Befindlichkeit. Der Ort von »Café Umberto« ist ein Arbeitsamt, und der Titel von »Angebot und Nachfrage« kommt aus der Welt des Kapitalismus.
RINKE: Die wohl situierte Mitte, wie wir es noch vor zehn Jahren kannten, existiert wohl nicht mehr. Es ist geradezu spürbar, dass diese Mitte jetzt einbricht. In dieser Hinsicht hat es also in der Wahrnehmung eine Verschiebung gegeben, die im Mittelpunkt von »Café Umberto« steht. Es sind einfach nicht alles Gruben- und Kohlearbeiter, wie wir uns immer schön die Arbeitslosen in der Dramatik zurecht geschrieben haben, mit Männern in Unterhemden auf der Bühne, die um 12 Uhr Bier trinken und ganz anders sprechen als ihr Publikum.
K.WEST: Wie kamen Sie zu dem Titel »Angebot und Nachfrage«?
SCHIMMELPFENNIG: In diesem Stück zerbrechen die beiden Figuren Ruby und Joseph daran, nicht mehr gefragt zu sein. Sie bewerben sich vermutlich um Arbeit, das lässt das Stück sehr diffus. Im Grund sind Joseph und Ruby nicht mehr vorkommende Bewerber. Das quält diese beiden Menschen. Sie suchen nach Ersatzbeschäftigungen und orientieren sich verstärkt am Konsum und am Fernsehen. Fernsehen wird ihnen zuteil, Konsum können sie nicht mehr so richtig mitmachen, sondern nur noch beobachten. Der Titel leitet sich von zwei Menschen ab, die ihre Arbeitskraft anbieten, und es besteht offensichtlich keine Nachfrage mehr.
RINKE: Was bieten die beiden eigentlich an – Krokodile?
SCHIMMELPFENNIG: Krokodile oder andere darstellende Tätigkeiten. Es gibt hier noch die Frage, ob man sich als Krokodil oder als Hamlet bewirbt. Das liegt letztendlich nahe beieinander, aber der Markt ist scharf – im Theaterbereich wie überall sonst auch.
RINKE: Es gibt nichts Trauriges als die Berichte über Ich-AGs – das Self-Branding-Konzept, sich auf den Markt zu werfen und sich als Ich-Marke zu präsentieren. Jemand, der sein ganzes Leben lang mit seiner Erwerbsarbeit identisch war, muss nun als Krokodil auf den Markt. Und morgen vielleicht als Seehund.
SCHIMMELPFENNIG: Die Ich-AG ist als Begriff grauenhaft, Neusprech. Die 35-jährige Ruby war einmal ein Seehund. Das Krokodil ist ihr nächstes Angebot, auf das sie setzt, nachdem der Seehund gescheitert ist. Der Seehund braucht das Wasser und ist dadurch nicht darstellbar. Es kommt dadurch zu einer eigenständigen Umgestaltung des Arbeitsangebotes. Das Krokodil ist Spitze, aber es will keiner ansehen. Da sich das Stück nicht in einer konkreten Arbeitswelt bewegt, besteht eine andere Möglichkeit, eine andere Form von körperlicher Fitness einzubauen. Ich weiß nicht, ob bei der normalen Arbeitssuche das körperliche Training dazu gehört. In diesem Fall läuft es parallel. Ruby springt Seil.
RINKE: Der Lohn der Ich-AG ist, dass man Arbeit hat – nämlich die Selbstausbeutung, Jule in »Café Umberto« pendelt 24 Stunden zwischen dem Verkauf von irgendwelchen Ozonerzeugern und nervtötenden Räuchero-Grill-Systemen hin und her. Neben der Selbstausbeutung kommt auch noch bis zur völligen Erschöpfung das Sich-Verschmelzen mit dem Produkt, aber es ist so schwer und so hart, mit seiner ganzen Person hinter Grill-Systemen zu stehen und für den Kunden sichtbar diese Systeme zu leben. Bezeichnenderweise ist die einzige Ich-AG, die in Berlin Furore machte, die die den Bundespressestrand eröffnet hat. Diese Ich-AG ist eine Bar und wurde natürlich von den Politikern besucht und als Aushängeschild gefeiert. Die SPD-Politiker sind da alle einmal hingegangen. Zuerst war es eine kleine Imbissbude und mittlerweile gibt es 40 Mitarbeiter. Dort wurde alles voll Sand geschüttet, und die Politiker sitzen dann da am Strand und trinken auf ihre arbeitsmarktpolitische Glanzleistung.
K.WEST: In Richard Sennetts Studie »Der flexible Mensch« werden die Anforderungen an die neue Arbeitswelt beschrieben. Die ständige Flexibilität führt zum Stillstand und Burn out.
RINKE: Ich habe Sennetts Buch gelesen, aber man kann es schwer auf das deutsche System übertragen. Die Amerikaner haben eine andere Möglichkeit, auf die Umstrukturierung zu reagieren, die der Neoliberalismus mit sich bringt. Sie haben nicht wie die Deutschen ein solches Sicherungssystem gelernt und gelebt: Soziale Sicherheit, Tarifautonomie. Die Amerikaner sind viel mehr auf sich gerichtet. Sie müssen für die Rente und ihre Gesundheit sorgen, sich Polsterungen bereithalten. Das gab es im Osten überhaupt nicht. Es ist bizarr, sich die DDR als Ich-AG mit all ihren Selbstentwürfen vorzustellen.
K.WEST: Es könnte für Ruby immer schwieriger werden, überhaupt an ein Angebot heranzukommen.
SCHIMMELPFENNIG: Gestern hat mir jemand eine schöne Geschichte erzählt. Eine Frau, die noch Sozialhilfeanwärterin war, musste über eine Überbrückzeit kommen. Der eine Job war ausgelaufen, und das Amt zahlte noch nicht. Die Auszahlung verzögerte sich aus irgendwelchen Gründen um drei Monate. In der Zeit wurde alles abgestellt, Telefon, alles weg. Eines Morgens wollte sie im Winter aus dem Haus. Die Wohnung war eiskalt. Es ist ihr vor Kälte der Schüssel abgebrochen, der innen in der Tür steckte. Siebter Stock. Sie konnte nicht die Wohnung verlassen. Sie konnte aber auch niemanden benachrichtigen, weil ihre Telefone gekappt waren, und das Handy nicht mehr bezahlt war.
RINKE: Mit Brieftauben …
SCHIMMELPFENNIG: … oder Sachen aus dem Fenster schmeißen. Oder wie in diesem Fall warten, bis der Nachbar, ein arbeitsloser Alkoholiker zufällig nach Hause kommt. Es hätte auch sein können, dass dieser Nachbar in den nächsten drei Tagen auf der Reeperbahn verschwindet. Der Nachbar kam, und es gab einen Ausweg. Der Schlüsseldienst kam, die Tür musste aber aufgebrochen werden. Nun stellte sich die Frage, wer bezahlt den Schlüsseldienst.
RINKE: Die meisten Menschen stellen ja ihre Kontakte, glaube ich, über Arbeit her. Und wenn sie dann da herausfallen, haben sie auch keine Kontakte mehr, das kommt ja noch dazu, nicht nur die wirtschaftliche Bedrohung, sondern auch die soziale, geistige, kommunikative. Jetzt würde mich mal in diesem Gespräch interessieren, welche Wege es gibt, dass eine arbeitslose Zeit nicht automatisch eine wertlose Zeit ist?
K.WEST: Dieses Aufbäumen wird dem Einzelnen anheim gestellt. Nach der marxistischen Theorie ist die Arbeit ein Grundbedürfnis. Wenn es nun immer weniger Arbeit gibt, müsste es zu einer Umwertung der Werte kommen?
RINKE: Genau. Es muss ja nicht immer gleich Erwerbsarbeit sein. Es könnte auch eine andere Form von Arbeit sein. Die »Neue Arbeit« wird auch in Deutschland schon des Öfteren ins Spiel gebracht.
K.WEST: Was ist darunter genau zu verstehen?
RINKE: Es gibt verschiedene Beschreibungen. Es gibt zum Beispiel das Modell »Bürgerarbeit«, das der Soziologe Ulrich Beck formuliert, erzieherische Arbeit, Pflegearbeit, all jene Arbeit, bei der Menschen gemeinnützig arbeiten und auch dafür bezahlt werden. Wobei mir dies wie die Ersatzlüge eines kapitalistischen Systems vorkommt. Für diese Arbeit gäbe es garantiert Nachfrage. Französische Soziologen sprechen von der »emotionalen Arbeit«. Und das versucht sogar die Ministerin Renate Schmidt. Wenn 80 Manager sie mit Fragen der Ökonomie bombardieren, fragt sie die Manager, ob sie ihre Kinder eigentlich nur schlafend sehen oder auch mal tagsüber, wach? Die Manager fallen dann alle vom Stuhl, sagt Schmidt. Also: Was befähigt uns, als Manager und auch als Bürger gesellschaftlich zu funktionieren, »funktionieren« ist vielleicht blöd, ich meine, wertvoll zu sein? Die Schmidt fragt ja: Kommt da aus dem privaten Umfeld auch eine Kraft, um uns zu vervollkommnen für Gesellschaftlichkeit? Tolle Frage für eine Ministerin. Die Politik spricht immer noch von »Vorfahrt für Arbeit« und Arbeit als einzigem Wert für Gesellschaftlichkeit. Das ist haarsträubend. Neoliberale Systeme implizieren, dass immer mehr Freizeit und immer weniger Arbeit produziert wird. Was machen dann sieben oder acht Millionen mit der »leeren« Zeit?
K.WEST: In »Angebot und Nachfrage« gibt es keine familiäre Struktur mehr wie in »Café Umberto«, die den Sohn in der Ferne unterstützt.
SCHIMMELPFENNIG: Nein. Das Ganze schwebt in einer Auflösung. Es ist auch unklar, wie weit die persönliche Beziehung zwischen Ruby und Joseph geht, oder ob es sich dabei um eine Zweckgemeinschaft handelt. Vielleicht ist es nur eine Form von makabrer Interessensgemeinschaft. Dieses Stück ist auch autobiographisch. In meinem Umfeld gibt es sehr viele Arbeitslose. In der Regel sind es Leute aus dem künstlerischen Bereich.
K.WEST: Die Betrachtung von bildender Kunst wäre eine Möglichkeit, die »leere« Zeit zu füllen. In »Café Umberto« ist es ein Vermeer-Gemälde, das diese Aufgabe erfüllt. In »Ambrosia« ist es der Alkohol, dieser Flüssigkitt, der die Gesellschaft zusammenhält.
SCHIMMELPFENNIG: Die »Ambrosia«-Trinker haben Arbeit, das ist vermutlich der Mittelstand. Beide Stücke thematisieren einen Werteverlust und die Umstrukturierung der Gesellschaft. Es geht auch um Umerziehung. In »Ambrosia« fehlen den Menschen die Ideen, die ihnen den Alltag füllen würden. In »Angebot und Nachfrage« wird über die Fernsehbilder gesprochen, die nichts in sich tragen, außer dem, was sie sind.
RINKE: Jaro, eine der Hauptfiguren in »Café Umberto«, provoziert wohl eher seine Mitmenschen, indem er ganz bewusst nicht mehr am üblichen Klagen teilnimmt oder die soziale Rolle ständig und autoritätshörig vom Staat verlangt. Er nimmt auch am Erwerbssystem draußen nicht mehr teil, nachdem er vom Arbeitsamt zu einer 750-Jahr-Feier nach Dellbrück-Brücken geschickt wurde und da vor Neonazis seine tschechischen Lieder spielte, was nicht so gut ankam. Er setzt sich jetzt lieber wie ein Kapitalismus-Streikender in die Einkaufspassage und spielt auch nicht seine Musik, weil er die wie einen heiligen Wert schützen will. Er nimmt lieber Almosen, als dem System mit seinem Heiligtum hinterher zu hecheln. Und dann sagt er, alle im Amt sollen sich Vermeer angucken. Es ist mir schon klar, dass das Vermeer-Bild nicht die Lösung ist. Es ist eben eine von Jaros Provokationen. Und das verlangt vielleicht auch eine etwas andere Sprache, dass also die Theaterzuschauer nicht mehr umhin können zu glauben, dass sie gemeint sind. Also ich meine alle auf Augenhöhe.
K.WEST: Warum haben Sie den Untertitel »Ein Satyrspiel« zu »Ambrosia« gewählt? Wenn man dies von der Antike her denkt …
SCHIMMELPFENNIG: … fehlt die Tragödie. Das Satyrspiel ist eine bukolische Auflösung. Die Tragödie ist ausgeklammert, sie findet gar nicht mehr statt oder ist woanders. In »Ambrosia« geht es letztendlich nur um die satyrische Verrohung, um Alkohol und Sex, und in Varianten kommt auch noch das Geld dazu. Der Untertitel ist dazu da, um zu sagen, dass es die Tragödie nicht mehr gibt. Natürlich könnte man sagen, dass die Tragödie in der Sache selber liegt. Dieser Frage wollte ich mich selber gar nicht aussetzen, denn dann müsste man diskutieren, warum diese Inhaltslosigkeit, warum dieser Stillstand in der langen Nacht des ewigen Besäufnisses.
K.WEST: Jean-Luc Godard hat einmal gemeint, dass für ihn jene Menschen die Helden sind, die täglich zur Arbeit gehen. Gibt es für Sie noch Helden?
SCHIMMELPFENNIG: Der Begriff des Heldischen ist ausgesprochen kompliziert. Ich habe einmal den Studenten in Weißensee die Frage gestellt, wer für sie Helden sind. Die Antworten waren furchtbar. Ich habe auch gefragt, wem würdet ihr ein Denkmal setzen. Vier von 25 Studenten haben, ohne miteinander gesprochen zu haben, Derrick und Horst Tappert genannt. Sie meinten die Figur.
RINKE: Ich würde Godard paraphrasieren und sagen, Helden sind jene Menschen, die die belächeln können, die meinen, dass sie die Helden seien, weil sie 12 Stunden jeden Tag zur Arbeit gehen. Dass wäre zumindest der erste Beginn der Entkoppelung vom Fetisch Arbeit, von der ich gesprochen habe und den alle Parteien vor sich her tragen, wobei sie gar nicht mehr merken, was sie damit anrichten. Nicht die Gewahrwerdung der eigenen Niederlage, sondern eine Lebensgestaltung und Selbststeuerung ohne Erwerbsarbeit, das fänd’ ich heute heldisch. Allerdings bin ich bei den »Nibelungen« mit dem Begriff des Heldischen so strapaziert worden, dass ich jetzt auch sagen würde: Es geht um die Entdeutschung des Deutschen: Raus aus der ständigen Erwartungshaltung, vom Staat etwas zu bekommen, raus aus der Schwermut, raus aus der ständigen Missmut. Es ist uns Deutschen wohl zutiefst eigen, dass alles schlecht ist. Ist das so?
SCHIMMELPFENNIG: Helden sind Menschen, die Widerstand leisten. Der Widerstand, ohne Arbeit ein sinnvolles Leben führen zu können, wäre mir im »heldischen« Sinne zu klein. Das Heldische bestünde darin, die verquere, total ausbeuterische Situation umzudrehen. Die Arbeitslosigkeit hier besteht zum großen Teil aus der Ausbeutung anderer Leute, in China oder anderen Ländern.