Wenn man vor dem NTG, dem Niederländischen Theater Gent, steht, das seit einer Saison Johan Simons leitet, der den Ruhm von Flandern mit der von ihm umgekrempelten, verjüngten und vitalisierten »Utopiefabrik« mehrt, wird der Blick auf den historischen Stadtplatz dominiert von der Sint-Baafs-Kathedrale. Ihr berühmtestes Kunstwerk, Van Eycks »Lamm Gottes« von 1432, auf dem der Weltkreis die aus wolliger Brust in einen Kelch blutende sanfte Allegorie Christi anbetet, vertraut noch einer vom Heiligen Geist überstrahlten Harmonie und Symmetrie, Ordnung und Einheit, auch wenn sich links aus einem Gebüsch schon die Inquisition halb hervortraut.
Beinahe exakt 200 Jahre später – 1635 erscheint Calderón de la Barcas »Das Leben ein Traum« – sieht das Abendland nach Luther, Bildersturm und Gegenreformation, Bauernkrieg, Bartholomäusnacht und Autodafés, Konflikten zwischen Katholischer Liga und protestantischer Allianz ganz anders aus.
Die RuhrTriennale 2006 widmet sich dem Zeitalter des Barock und untersucht Heils- Konstruktionen in einer heillosen Zeit. Wenn das kein aktuelles Thema ist – auch jenseits von Guantánamo oder der Hinwendung zu tempi passati. Für Johan Simons zumal, der als Regisseur Stoffe auf ihre Gegenwärtigkeit überprüft. Vor drei Jahren etwa hat er an den Münchner Kammerspielen Heiner Müllers Shakespeare-Kommentar »Anatomie Titus Fall of Rome« inszeniert und das krude Blutstück in protestantischer Ästhetik mit wenigen Zeichen und luzidem Formbewusstsein zum grandiosen Denkspiel geklärt.
Für Jürgen Flimms zweiten Festival-Zyklus kehren zwei Künstler ins Revier zurück, die Gerard Mortier bereits eingeladen hatte: Alain Platel, dessen Tanztheater »Wolf« Mozart in den Suburbs lokalisierte, mit einer Monteverdi-Vesper. Und Simons mit Calderón, der noch in einem weiteren Sinn an die Mortier-Ära erinnert, als sie Paul Claudels Großes Welttheater »Der seidene Schuh« produziert hatte – ein Werk, das ohne das Vorbild Calderón nicht denkbar gewesen _ wäre. Flimm ist von Simons derart angetan, dass er ihn inoffiziell zum »Oberspielleiter« befördert, und überhaupt animiert vom reellen, unkapriziösen Genter Kreativ-Klima: »Ihr _ seid so anders«, flapste er – vermutlich eingedenk deutsch-österreichischer Kunst- und Künstler-Blähungen.
Calderón, Hofkaplan, der für Madrid Fronleichnamsfestspiele verfasste, und Priestersoldat, der 1625 bei der Schlacht von Breda dabei war, als die Festung der Oranier fiel, ließe sich als katholischer Shakespeare bezeich- nen. Wie passt dieser »Dichter der Ethik-_ ette« (Alfred Kerr) zu Simons, dem nüchternen Niederländer? Vielleicht insofern, als die Versuchsanordnung des Stückes ein Menschen-Experiment durchführt. Ein Thema, das Simons beschäftigt: etwa in seiner Roman-Adaption von Houllebecqs »Elementarteilchen« 2004 in Zürich. Die Frage nach dem »Neuen Menschen « – bei Houllebecq am Endpunkt von Individualität und Sexualität angelangt, für Calderón im 17. Jahrhundert noch ein frischer Utopie-Entwurf. Bei seiner Umsetzung von Houellebecq habe er für die Figuren der Brüder Bruno und Michel die Fragilität von Giacometti-Plastiken vor Augen gehabt, erläutert Simons. Und an die Malerei der holländischen Alten Meister gedacht, auf deren Gemälden oft nur am unteren Bildrand das Gewimmel der Welt existiere, während darüber viel Luft, viel Leere, viel Freiraum sei.
Bei Calderón werde es anders aussehen, »wilder«, vermutet Simons, dessen letzte Arbeiten sehr »kahl« gewesen seien, so dass er nun gern »große Bilder« entwerfen würde.
Auch das habe mit Spanien zu tun. Bei Calderón denke er stets an Buñuel, in dessen Filmen dem Kultivierten jederzeit Bedrohung, Auflösung, Gewalt inne wohnt.
»Das Leben ein Traum« handelt von Vater und Sohn: vom König von Polen, dem die Sterne einst weissagten, dass sein Sohn zum Mörder an ihm werde und ein Monstrum. _ Also lässt er den Knaben wegsperren. Erwachsen geworden, wird Sigismund frei gelassen – auf Bewährung und inthronisiert. Er erfüllt zunächst die arge Prophezeiung, wird erneut in den Turm verbannt – und erhält eine zweite Chance.
Ihre kondensierte Fassung, so Simons, wolle zeigen, dass »das Dunkle nötig sei, um ins Licht zu gelangen«. Den zweiten Teil hätten sie übertitelt mit »Der Sündenbock« und den Schluss-Akt »Der Kampf mit sich selbst« genannt. Prinz Sigismund verwandelt sich gewissermaßen vom Ödipus zum Parsifal, überwindet sich selbst. Er, dem Schlimmes angetan wurde, wähle nicht die Rache, sondern die Menschlichkeit, und etabliere ein neues Menschenbild, sagt Simons. Philosophisch sei das zwar nichts Neues gewesen.
Dennoch: »Vergebung« stehe am Ende und schaffe damit einen Anfang.
Theater als Hoffnungs- und Glaubensort.
Der Gott seiner Kindheit, sagt der 1946 in einem Dorf bei Rotterdam geborene Simons, hat »meine Angst vergrößert und war zugleich trostreich«. Er erinnere sich an halbstündige Abendgebete, an Zwiegespräche.
Sehr evangelisch. Keine katholische Formeln, sondern Dialog. Ein Gott, mit dem man von Du zu Du redet – und streitet.
Wie die Triennale-Produktion »Sentimenti « 2003 von Simons/Paul Koek und »ZT Hollandia« wird das neue Projekt eine musikalische Struktur haben: Peter Vermeersch lässt sich dafür von Johann Sebastian Bach inspirieren.
Wiederum ein Kontrastprogramm. Technik der Gegensätze. »Sentimenti« – nach Ralf Rothmanns Roman »Milch und Kohle« – löste sich auf durch die und in die Opernmusik Verdis. Rothmann erzählt von Aufbruch und Abschied und den Fliehkräften der Jugend. Eine Familie in den sechziger Jahren zwischen Essen-Borbeck und Oberhausen- Osterfeld, als die Gute-Hoffnungs-Hütte noch nicht Symbol des Niedergangs war. Anders als die musikalische Sozialisation der Hauptfigur Simon Wess, der die »Stones« und »Beatles« hört, unterstützt hier Verdi die Szenenfolge mit Arien und Duetten als Beschwörungsformeln und emotionalen Verstärkern, die aber nie illustrierend wirken, sondern gegen das Süffige revoltieren und Fülle des Wohllauts einschmelzen.
Wenn für Calderón, den Dichter katholischer Liturgien, der deutsche Komponist der Passionen und überwältigenden Choral- Gesänge – salopp gesagt – den Sound liefert, wird und soll sich Reibung herstellen. Solche »komplizierte Dramaturgie«, die den linearen Ablauf in Parallelaktionen gliedert, die repetiert, arretiert und reflektiert, interessiert Simons. »Die Musik muss selbstständig sein. Da bin ich streng und hatte meine Erziehung durch meinen Partner Paul Koek.« Die beiden arbeiten seit 20 Jahren zusammen.
1985 gründete sich die legendäre Gruppe »Hollandia«, mit der allein Simons in eineinhalb Jahrzehnten über 40 Inszenierungen geschaffen hat. Sein künstlerischer Beginn reicht noch ein paar Jahre weiter zurück. Damals lautete die Vorgabe, das Theater zu den Menschen zu bringen. Das war so in Holland, wo »das Theater keine einzige Wirkung hat«, wie die Kritikerin einer Amsterdamer Zeitung harsch urteilt. Gruppen bereisten wie fahrendes Volk die Lande, spielten in einem Zirkuszelt – als Teil des Modells Regiotheater und so genannten Werktheaters. Eines der Ensembles um Simons nannte sich »Wespe« – wie das Insekt, das sticht und dann fix die Fliege macht. Ein Mitarbeiter aus dieser frühen Phase sagt: »Johan ging weg, um berühmt zu werden.« Das Ziel hat er erreicht. Soeben hat er bei Gerard Mortier an der Pariser Oper sein Musiktheater-Debüt mit Verdis »Simon Boccanegra« gegeben, wofür ihn die französische Presse abgekanzelt, die deutsche Kritik indes belobigt hat.
Wieder war er seinem Prinzip gefolgt, einen Stoff »mit Realität zu begründen«, zumal da er das Grundthema Macht und Politik in sich trägt. Das gilt für Verdi wie Calderón, für dessen Schlusstableau der Regisseur bereits ein Bild im Kopf hat: Wie bei einer südamerikanischen Revolutionsfeier pflanzen sich die Herrschenden auf dem Balkon vor Mikrofonen auf und präsentieren sich dem Volk.
Realitäts-Begründungen – dafür braucht es nicht viel. Einen Erdhaufen, eine Halle, die nicht aufgerüstet sein muss wie die Jahrhunderthalle, wo »Sentimenti« auf einem aus Briketts geschichteten Feld spielten, oder wie der Landschaftspark Duisburg, wo Simons »Fall der Götter« nach Visconti gezeigt hat. Es reicht eine einfache Spielfläche, Podien, eine schrundige Brandmauer. Oder ein Auto-_ friedhof und Hühnerhaus – Schauplätze von »Hollandia«-Produktionen. Für Simons ist das Triennale-Engagement – der Calderón wird in der Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck eingerichtet – eine Art Rückkehr zur Frühzeit von »Hollandia«: Spiel in offenen Räumen, die Freiheit, Dinge zu machen, die ein Theater in seinen Umgrenzungen nicht erlaubt.
Oft haben sie damals deutsche Dramatiker, Achternbusch, Dorst, Kroetz, Laederach und auch Büchner aufgeführt – Stücke von unten, Volksstücke, Milieu-Studien. »Die Schwerheit des Deutschen erkenne ich auch bei mir«, begründet es der Gastarbeiter in Belgien, einem _ Land, das er mental mehr dem Süden zurechnet.
Die Wirklichkeit kleiner Leute in ihrem Alltag stand am Anfang von »Hollandia« – und wurde zuletzt in »Sentimenti« wieder zum ästhetisch überhöhten Ereignis. Im Juni gastiert der wunderbare Abend beim Holland- Festival in Amsterdam. Wäre es nicht sinnig – Johan Simons stimmt zu!, »Sentimenti « jedes Jahr bei der Triennale zu haben, quasi als Bochumer »Jedermann«, vielleicht als Selbstfeier, ohne falsches Pathos, wohl aber durchflossen von einem »Gefühlsstrom«? Anders als vor allem jüngere Kollegen, hat er keinen Vorbehalt gegenüber der Emotion auf der Bühne: »Weinen im Theater ist eine Befreiung«, sagt Simons: »Der Gedanke muss eine Emotion verursachen. Statt dass Gedanken klopfen, soll das Herz klopfen.« Bei dem stabilen, stämmigen Mann, den man fälschlich für grob halten könnte, ist hinter der bäuerlichen Physiognomie ein sensibler Charakter spürbar. Er bewegt sich, als würde sich sein Körper in einem Ruhepunkt konzentrieren und spannen. Simons’ Vater war Bäcker – und hat gezockt beim Pferderennen.
Vor einem Jahr hat der Sohn in Berlin bei Castorf am Rosa-Luxemburg-Platz Dostojewskis »Spieler« inszeniert. Autobiographie ist’s immer.Jemand aus seiner Umgebung sagt von ihm, er besitze die große Qualität, Leute an sich zu binden – wie Elsie de Brauw und Betty Schuurman, Jeroen Willems und Fedja van Huêt. Und sei dabei »sans gêne«, hemmungslos.
Der Künstler als Ausbeuter, der sich vom Blut des Schauspielers nährt. Berufskrankheit – vielleicht eine Mangelerscheinung. Simons betont das »kreativ-manipulative Vermögen« des Regisseurs. Er setze auf die »Intelligenz« des Schauspielers; auch auf Intuition, die existiere als »körperliche Erinnerung«, nicht so sehr auf Instinkt, lacht er, das wäre wieder »katholisch«. Schwierig sei es, »die Sprache vom Papier zum Mund des Schauspielers zu bringen«. Schauspieler hätten auf der Bühne kein anderes Leben zu haben und zu zeigen als auch sonst, außerhalb des Spielraums: »Alles, was man denken kann, muss man benutzen. Muss alles weit machen und reich, damit und wodurch ein Dasein entsteht.« Er fordert »ein Sagen des Schauspielers über das Ganze«. »Hier und jetzt« ist für Johan Simons die Welt des Theaters – in Amsterdam, Gent oder Bochum, bei Aischylos, Calderón oder Houellebecq.
»Das Leben ein Traum«, 25. August bis 6. September, Gladbeck, www.ruhrtriennale.de »Sentimenti«, Holland Festival, 2. bis 4. Juni 2006,www.hollandfestival.nl NTG, Gent, Spielzeit-Informationen: www.ntgent.be