Ein 70-Jähriger erwacht: Owen Mackenzie, Computeringenieur der ersten Stunde, durch den Verkauf seiner Firma reich geworden, Einzelkind, zum zweiten Mal verheiratet, im Umgang unbeholfen, gleichwohl auf eine beachtliche Aff ärenzahl zurückblickend, weil er immer bereit war, sich verführen zu lassen. Während Ehefrau Julia schon im Haus werkelt, rekapituliert Owen die Träume der Nacht und hängt seinen Erinnerungen nach. Erinnerungen, die sich meist um jenes Eine drehen, an das Männer angeblich immer denken. Von den aufregend-unverständlichen Wand- Kritzeleien in der Kleinstadt und der Reaktion der Mutter auf einen Kondomfund beim Spaziergang über Pettingerfahrungen im väterlichen Auto bis zu zig Seitensprüngen, in denen er die Epochenwende zum pillengestützten Libertinismus der 1970er Jahre am eigenen Leib erfuhr. Eine »éducation sexuelle « auf amerikanisch, die schließlich in der Ehe mit der geschiedenen Frau des Orts- Geistlichen ihren Abschluss findet.
Das klingt nach Altherren-Phantasien, und im Grunde handelt der neueste Roman des Altmeisters literarisierter Mittelschicht- Promiskuität genau davon; befürchtet-erhofft detailgenau und doch ganz anders. Mackenzies Erinnerungen an karge Kindheit, sozia-len Aufstieg, Studium und Heirat, Erfolge in der Soft ware-Gründerzeit, vierfache Vaterschaft , Aff ären, Scheidung, schließlich der altersmilde Blick auf eine in die Jahre gekommene Zweitehe – sie präsentieren sich in einem überbordenden Erinnerungs-, Bewusstseinsund Selbstrefl exionsstrom. Aus durchaus trivialitätsgefährdetem Stoff entsteht so ein literarisches Alterswerk im umfassenden Sinne: das Buch eines alternden Autors (Updike wird 74) über das Altern – des Körpers, der Gefühle, der Sitten, der Computertechnologie. Updike schreibt die Th emen seiner früheren Romane fort, aber die scheinbar fröhliche Promiskuität ist längst zur Bürde geworden. Die Schlüssellochblicke auf fremdes Leben, zu denen er uns verführt, sind weder peinlich noch langweilig. Ihre rücksichtslose Detailversessenheit mag bei der einen Erschrecken, bei dem andern gegenteilige Sensationen auslösen und bei manchen beides zugleich. An pornographiennahen Passagen ist kein Mangel, aber die sind nie Selbstzweck, weil nicht nur die Körper der weiblichen Protagonisten bloßgelegt werden, sondern – gnadenloser noch – die Seelen der männlichen und ihre verzweifelte Suche nach dem Glück.
Männerliteratur? Auf jeden Fall taugen Updikes Romane zu lebensbegleitender Lektüre. Seine Helden sind uns immer ein paar Jahre und Lebenserfahrungen voraus, seine Bücher exakter als Horoskope. Nicht Lottogewinne oder spätes Liebesglück werden versprochen, aber Zukunft sangst wird gemildert, weil man schon kennt, was irgendwann sowieso eintritt. »Landleben« handelt von den Lächerlichkeiten menschlich-männlicher Existenz. Dank Updikes lakonischer Prägnanz mutieren die Schrecken des Wiedererkennens zu ästhetisch- intellektueller Leichtigkeit, münden mitunter gar in Leseglück – in der deutschen Version wird letzteres leider getrübt durch eine lieblose und schludrige Übersetzung. Englische Satzstrukturen werden wörtlich – also falsch – übertragen, neue Amerikanismen erfunden (»Paddle-Tennis« für Tischtennis); und wenn aus »hotly debated tax overrides« (d.h. Debatten über Steuerersparnisse) »hitzige Übersteuerungsdebatten« werden, dann ist das nicht bloß falsch, sondern ärgerlich. Nicht nur die deutsche Autoindustrie hat ein Problem mit der Fertigungskontrolle. //
John Updike: Landleben. Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel und Helmut Frielinghaus. Rowohlt 2006, 414 S., 19,90 €