TEXT & REDAKTION: GUIDO FISCHER
Als am 19. September 1958 John Cages Klavierkonzert seine Europäische Erstaufführung erlebte, wollte man im Kölner Funkhaus seinen Ohren nicht trauen, darunter auch der konservative Fortschrittsdenker Theodor W. Adorno, der miterleben musste, wie die traditionsreiche Gattung Klavierkonzert aus den Angeln gehoben wurde. Statt einer ordentlich skizzierten Partitur hatte Cage den Musikern nur grob notierte Einzelstimmen an die Hand gegeben, die jeder frei gestalten konnte. Auch mit dieser aufführungspraktischen Anarchie wollte Cage tabula rasa mit dem Musikerbe machen. Bei seinen Befreiungsschlägen ging er radikal neue Wege.
Cage wartete etwa nicht mehr auf den genialen Gedankenblitz, sondern wählte lieber den Zufall als Kompositionsprinzip oder befragte das chinesische Orakelbuch I-Ging. Oder er rehabilitierte mit dem Klavierstück »4´33´´« die Stille als tonloses Klangereignis.
1992 ist John Cage gestorben, den der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger einen »anti-autoritären Musiker« genannt hat. Es gratulieren Festivals und Konzertreihen dem Amerikaner postum zum 100. Geburtstag. K.WEST bat aus Anlass der Feierlichkeiten Interpreten, Komponisten und Musikwissenschafter um eine Würdigung.
HEINER GOEBBELS
Das Revolutionäre von John Cage liegt für mich in seiner Entspanntheit. Von seinen Werken finde ich besonders bahnbrechend bzw. wegweisend »Europeras 1&2«, weil es aus dem großen Fundus der Operngeschichte eine völlig neuartige Musik generiert und Cage auch in seinem visuellen Konzept das alte Material von seiner Schwerkraft befreit. Strukturell schafft er eine wahrhaft dezentrale, quasi demokratische Koexistenz aller Theatermittel, die uns die sinnstiftenden Mittel selbst an die Hand gibt.
Heiner Goebbels ist seit 2012 Intendant und künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale.
LOUWRENS LANGEVOORT
John Cage hat Musik geschrieben, die nicht als Musik, sondern als Stille notiert wird, und dennoch Klang und Musik enthält. Das ist revolutionär und wirkt bis heute nach. Das hat nicht nur die Musik bereichert, unser ganzes Wahrnehmen der Umwelt wurde dadurch sensibilisiert. Paradestück hierfür ist natürlich »4´33´´«, das eben dieses Phänomen herausragend in Szene setzt. Bei all der Bedeutung, die er für Musik bzw. Nicht-Musik hatte, darf man keinesfalls vergessen, dass Cage zusammen mit Merce Cunningham zudem noch wesentlichen Einfluss auf den Tanz nahm. Es wäre wünschenswert, dass anlässlich des Jubiläums daher nicht nur seinen Kompositionen, sondern auch dem Tanz wieder höhere Aufmerksamkeit zuteil würde.
Louwrens Langevoort ist Leiter des »Acht Brücken«-Festivals und Intendant der Kölner Philharmonie.
HERMANN KRETZSCHMAR
In der Abkehr vom akademischen Kunstkanon und Vorbildern aus früheren Epochen hinterfragt Cage den musikalischen Werk- und Materialbegriff, definiert ihn neu. Er hat damit grundlegende Veränderungen in der Welt der Wahrnehmung, speziell der des Hörens bewirkt. So ist etwa »Indeterminacy« eine neue Vision der Gleichzeitigkeit von Text und Musik. Das »Concert for Piano« gilt als Neubestimmung des Interpreten, der aktiv in kompositorische Strukturen eingreifen kann. Darüber hinaus wurden viele Techniken, die heute von Komponisten selbstverständlich übernommen werden, von Cage erfunden: etwa die Präparierung des Klaviers, die Entwicklung der Elektronik, das Prinzip der medialen Vielfältigkeit. Im Zuge der Digitalisierung sind Werke von Cage daher für junge Komponisten sicherlich inspirierend, speziell seine späten, in denen er den Computer einsetzt.
Als Pianist des Ensemble Modern, mit dem er am 6. Mai in Köln gastiert, hat Hermann Kretzschmar u.a. mit Cage, Stockhausen, Kagel und Frank Zappa zusammengearbeitet.
MICHAEL STEGEMANN
John Cage hat zum einen in seiner Musik und seinem Denken einen der wenigen tragfähigen Gegenentwürfe zum Stildiktat der Serialität geliefert. Zum anderen ist er einer der ganz wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts, in dessen Musik spielerische Leichtigkeit manifest wird, die sich wohltuend vom intellektuellen Anspruch der Nachkriegs-Generation abhebt. Ein Meilenstein von ihm ist das Stück »4´33´´«, das die (nicht nur Neue) Musik – im Geiste Erik Saties – an ihre Grenzen geführt hat. Auf andere Weise nicht weniger spannend sind seine Werke für präpariertes Klavier, weil sie zu Klangeffekten und -welten vorgedrungen sind, die gleichfalls im wahrsten Sinne des Wortes unerhört waren. Die Konzerte und Symposien zu Cages 100. Geburtstag zeigen, wie lebendig er immer noch ist, auch wenn sich die stilistischen Entwicklungen der Neuen Musik in den letzten zwei Jahrzehnten in eine andere Richtung bewegt haben. Dass die Postmoderne inzwischen auch schon wieder ein historisches Phänomen darstellt, ist das eine; das andere, dass Cage eben für eine Moderne steht, die an keine Zeitströmungen gebunden scheint.
Der ehemalige Messiaen-Student Michael Stegemann ist in Dortmund Professor für Musikwissenschaft und hat Bücher über Mozart, Schubert, Liszt und Glenn Gould geschrieben.
WULF HERZOGENRATH
Die Radikalität von Cage zeigt sich ebenso auf dem Gebiet der Präsentation von Bildender Kunst. Fragen nach Geschmack, Schönheit und Ordnung im Museum wurden von ihm völlig neu beantwortet. Nachdem Cage seine Idee des zufälligen Miteinanders im »Musicircus« – dem gemeinsamen Musizieren von Profis und Amateuren sowie verschiedener Genres und Ensembles und der Übertragung dieses Prinzips auf die Oper »Europeras 1 & 2« – entwickelt hatte, realisierte er ein ähnliches Konzept für das Museum, das eine Zufallsauswahl und -hängung bildnerischer Arbeiten als Ausstellungspraxis vorsieht. Auf diesem Prinzip basierte 1993 die Cage-Ausstellung »Rolywholyover: A Circus for Museum by John Cage« in Los Angeles. Der Zufall entschied darüber, ob im Ausstellungsraum (oder im sichtbaren Depot), wie lange und an welcher Stelle der Wand die von den Museen zur Verfügung gestellten Objekte gezeigt wurden. So entstanden täglich neue Zusammenhänge: Ein mittelalterliches Hinrichtungsschwert hing neben einem Elchzahn und einem monochromen Bild. Das war bahnbrechend und ist so bisher nicht wieder gemacht worden.
Ich bin Cage schon früh begegnet. So auch 1978, als in Bonn ein schönes Festival für Cage veranstaltet wurde, bei dem das gemeinsame Foto mit meinem dreijährigen Sohn Felix entstand. Es war dasselbe Jahr, in dem ich als Direktor des Kölner Kunstvereins die in Europa erste Ausstellung von Cages visuellen Arbeiten realisierte.
Wulf Herzogenrath ist Kurator der Ausstellung »John Cage und…«, die bis zum 17. Juni in der Berliner Akademie der Künste und in veränderter Form ab 14. Juli während der Salzburger Festspiele zu sehen ist. Beim Klavier-Festival Ruhr hält er am 25. Mai einen Vortrag über Cage und die Bildenden Künste.
JACOB GOTLIB
Cage hat mein Bild und meine Philosophie von Musik grundlegend geprägt. Wie er bin ich der Meinung, dass ein Musiker die Freiheit haben muss, alle Klänge zu verwenden. Denn alles, was man hören kann oder man sich vorstellt zu hören, kann Teil deiner Stimme, der künstlerischen Persönlichkeit und Identität sein. Cage hat so die Definition von Musik aus unserem kulturellen Lexikon getilgt; daher ist es jetzt an jedem Komponisten, eine eigene Definition für Musik zu finden. Für die Art und Weise, wie wir die Musik ständig hinterfragen und neu erforschen, hat Cage uns nicht nur die Werkzeuge geliefert. Er hat uns die Erlaubnis erteilt, es zu tun.
Der Amerikaner Jacob Gotlib wurde mit einem Schlagzeug-Werk für das Finale des Kölner Internationalen Kompositionswettbewerbs für junge Komponisten am 1. Mai nominiert.
JIMI TENOR
Ich vermute, Cage war einer der ersten Menschen, die Musik in Happenings verwandelten. Unbeabsichtigtes Zeugs eben. Vor kurzem las ich eines seiner Bücher. Es war interessant und langweilig zugleich. Ich denke, das war sein Ziel.
Der finnische Pop- und Jazz-Exzentriker Jimi Tenor hat 2006 Werke von Boulez, Satie und Varèse re-komponiert.
STEFFEN SCHLEIERMACHER
Den ersten Kontakt mit seiner Musik hatte ich in den späten 70er Jahren. Ich hörte damals einige seiner Kompositionen für Schlagzeugensemble und beschäftigte mich, sehr zum Entsetzen meiner Eltern, mit dem präparierten Klavier. Bis heute fasziniert mich seine Musik und auch seine persönlich vorgelebte Einheit von Kunst und Leben, auch wenn ich einige seiner kompositorischen Ansätze und Ideen nicht verstehe oder ihnen nicht recht folgen kann und will. Mich beeindrucken seine künstlerische Vielfalt und ästhetische Konsequenz. Besonders liebe ich seine Klaviermusik (speziell die »Music of Changes« und die QEtudes Australes«), aber auch nach wie vor seine Schlagzeugmusik aus den 40er Jahren sowie sein »String Quartet« und die »Sixteen Dances«.
Der Komponist und Pianist Steffen Schleiermacher wurde für seine Gesamteinspielung von Cages Klavierwerk mit dem Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet.
John Cage erleben:
»Acht Brücken«-Festival, Köln, bis 6. Mai 2012; www.achtbruecken.de
Klavier-Festival Ruhr: Konzerte u.a. mit Margaret Leng Tan (24.5.) und Steffen Schleiermacher (29.5.); www.klavierfestival.de
Ruhrtriennale: Premiere von Cages Oper »Europeras 1 & 2«, 17. August; Jahrhunderthalle Bochum; www.ruhtriennale.de
Beethovenfest Bonn: Am 15. September findet der Konzertmarathon »In the Bird Cage« u.a. mit Pierre-Laurent Aimard statt; www.beethovenfest.de