TEXT: GUIDO FISCHER
Drei Jahre fehlen ihm noch. Dann geht Jean Guillou mit 83 nicht etwa in Rente, sondern endgültig in die Orgelgeschichte Frankreichs ein. 2013 wird Guillou sein 50-jähriges Dienst-jubiläum feiern: als Titularorganist einer Kirche, die zu den musikhistorisch bedeutsamsten Sakralbauten an der Seine zählt. Mitten in Paris, direkt an Les Halles, liegt Saint Eustache. Wer ist hier in Jahrhunderten nicht alles ein- und ausgegangen. Jean-Baptiste Lully kam von Versailles angereist, um den Bund der Ehe einzugehen. Mozart hat hier seine Mutter bestattet, Jean-Philippe Rameau wurde hier begraben. Im 19. Jahrhundert wankte das Kirchenschiff schon mal gewaltig, wenn Hector Berlioz und Franz Liszt in riesiger Besetzung ihre geistlichen Werke zur Urauf-führung brachten. An diesem traditionsrei-chen Ort verrichtet Jean Guillou seit 1963 sein Handwerk, spielt zum Gottesdienst auf, gibt Orgelkonzerte, komponiert und sorgt sich um den Allgemeinzustand sowie Stimmungs-schwankungen seines Instruments. Eben die Aufgaben, die ein hauptamtlicher Organist in der Provinz wie auch in der Metropole zu erledigen hat.
Doch Guillou ist im Gegensatz zu seinen namhaften Pariser Kollegen etwa von St. Trinité oder St. Clothilde mehr als nur ein pflichtbewusster Angestellter des Herrn. Der Mann mit dem elegant gefönten Haarkranz ist von der Orgel derart besessen und begeistert, dass er sie inzwischen sogar in die Luft sprengen will. »Jedes ihrer Einzelteile, ihre Register und Pfeifen, könnte man so mitten ins Publikum fegen.«
Guillou ruft damit jene berühmte Zerstörungs-lust in Erinnerung, mit der Frankreichs allmächtigster Komponist und Dirigent Pierre Boulez einst die Opernhäuser in Schutt und Asche legen wollte. Boulez’ Gewaltphantasie war damals nur als Aufforderung gemeint, endlich mit dem konfektionierten Opernbe-trieb aufzuräumen. Auch Guillou will mit seiner radikalen Androhung nur einen überfälligen Rollenwechsel der Orgel provozieren. Lange genug hat sich für ihn die Orgel zu einem Kirchen-Instrument entwickelt, das mit seinen monströsen Ausmaßen und Klängen die ehrfürchtige Gemeinde im Griff hat und in Bann hält.
Solche ketzerischen Gedankengänge sollten für seinen Lohngeber ausreichen, ihn zu feuern. Indes hat er »wohl bald ein knappes Dutzend Priester überlebt«, wie er einmal bemerkte: »Sie waren alle sehr nett zu mir und wussten, dass die Musik in dieser Kirche einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Sie haben mich meine Musik spielen lassen.« Die geistlichen Herren werden gewusst haben, dass es im Grunde keinen besseren Botschafter von Saint Eustache geben kann als ihn. Der Virtuose reist weltweit umher, um mit J.S. Bach und eigenen Transkriptionen und Improvisationen zu verblüffen. Sein Buch »Die Orgel – Erinne-rung und Vision« gilt als Standardwerk. Neben seiner Lehrtätigkeit entwickelte der Schüler von Marcel Dupré und Olivier Messiaen wie kein Zweiter den Orgelbau weiter.
Ob in Zürich, Brüssel oder Neapel, in der luftigen Tour de France-Höhe von Alpe d’Huez oder eben in Saint Eustache: Überall entstanden unter seiner Aufsicht Orgeln mit ungeahnt neuen Möglichkeiten. Mit dem Instrument, das in dem von Star-Architekt Santiago Calatrava auf Teneriffa gebauten Konzertsaal 2005 eingeweiht wurde, konnte Guillou etwa gewaltig an den statischen Aufführungs- und Hörgewohnheiten eines Orgelkonzerts rütteln. Auf zwölf Klangkörper hat Guillou die Orgel im Raum verteilen lassen, mit reichlich Platz und Tastaturen für ein neunköpfiges Organisten-Orchester.
Seit dreißig Jahren treiben ihn Pläne um, die die Orgel als vielseitig und vor allem dialogbereit rehabilitieren. Wie sie es für ihn noch in der Antike war -– ein heidnisches Instrument unter vielen. Unter dem Stichwort »Orgel mit variabler Struktur« knüpft Guillou unermüdlich an diese Vorzeit der Musikhistorie an.
In Anlehnung an Platons Symposien organi-
siert er in Saint Eustache konzertante Ge-sprächsrunden. Mal tauscht er sich an der Orgel mit einem Pianisten, Violinisten oder Cellisten aus, oder er lässt die Tasten springen und Pfeifen glühen in Performances mit Pantomimen, Tänzern, Malern. Um aber die Orgel gänzlich aus ihrem Nischendasein als liturgischer Dominator herauszuholen und unter die Leute zu bringen, hat sich Guillou besonders in ein Großprojekt verbissen. Mit der Bonner Orgelbau-Werkstatt Klais will er ein transportables Instrument konstruieren, das zerlegt in jeden Lkw passt und sich innerhalb von zwei Stunden wieder aufbauen lässt, auf der grünen Wiese oder einem Marktplatz.
Bis Guillou aber für diesen etwas anderen Tour-Bus die notwendigen Sponsoren gefunden haben wird, reist der 80-Jährige vorerst mit einem gleichermaßen aufwändigen Unternehmen durch europäische Musikzentren – auch nach Köln. »La Révolte des Orgues« lautet der Titel seiner 2007 uraufgeführten, von der Besetzung her einzigartigen Komposition. Eine große Orgel, acht kleine mobile Orgeln sowie Schlagwerk und ein Dirigent bilden das Herz-Rhythmus-System. Was für ein organisatorischer Kraftakt es allein ist, die Instrumente zu transportieren, vorsichtig zu entladen, im Innenraum zu verteilen und in Feinstarbeit aufeinander abzustimmen, ist auf einer DVD anlässlich eines Konzerts in Saint Eustache dokumentiert. »Im Innern des Werks entrolle ich das Manuskript tausender Geschichten der kultischen Orgel durch die Jahrhundert hindurch«, so Guillou.
Zunächst sind es nur einzelne Tontropfen, die in den Klangraum fast unbemerkt hineinfal-len. Nach und nach gesellen sich aus Winkeln und Ecken schillernde Skalen und Rhythmen hinzu, nimmt das prismatisch-kosmologische Weltentosen seinen Lauf, angetrieben von archaischen Schlagzeug-Wirbeln sowie virtuosen Passagen-Winden, die Guillou am Spieltisch der Hauptorgel gleich wieder besänftigt. Um jedoch den Aufstand der Orgeln erfolgreich zu proben, hat er ausschließlich prominente Gleichgesinnte zusammengerufen. Darunter sind Martin Baker von der Londoner Westminster Cathedral, Filipe Verissimo (Portugal) sowie der Kölner Domorganist Winfried Bönig. Gemeinsam sorgen sie, ganz zum Schluss, für eine ohrenbetäubende Akkordexplosion. In die Luft gesprengt, wie es Guillou vorschwebte, werden die Orgeln damit zwar nicht. Doch wurden sie immerhin richtig durchgepustet.
Jean Guillou und seine Revolte der Orgeln erklingt am 12. Oktober 2010 in der Philharmonie Köln; www.koelner-philharmonie.de