Froschgrün ist die Geilheit. Der gefeierte Dichter Baal nimmt sich die Frauen, die er will – und wirft sie weg. Er interessiert sich nicht für Werte wie Anstand, Freundschaft oder Verantwortung. »Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft«, beschrieb Bertolt Brecht die Titelfigur in seinem wüsten Jugendwerk »Baal«, uraufgeführt 1923 in Leipzig. Es trug durchaus autobiografische Züge. Auch der kommunistische Schriftsteller betrank sich gerne mit Fuhrleuten in seiner Augsburger Heimat – und liebte die Frauen. Dass sein kapitalismuskritisches Werk fürs Theater knapp 100 Jahre später nun als Vorlage für ein brillantes Tanzstück dienen würde, hätte er sicher nicht vermutet. Die Choreografin Aszure Barton hat »Baal« als Auftragswerk für das Ballett am Rhein in Szene gesetzt. Es wird in dem Doppel-Programm »I am a Problem« mit Roland Petits »Carmen« gezeigt.
Die weltweit gefragte Kanadierin ist die Entdeckung der Saison. Sie hat nicht nur, als erste Choreografin überhaupt, Brechts Drama am Rhein vertanzt. Auch ihre wunderschöne Ballett-Meditation »Come In«, die wie eine Friedensbotschaft in schlichten, ehrlichen Moves anmutet, hat sie hier einstudiert. Ein Frühwerk, entstanden im Jahr 2006 für den Weltstar Mikhail Baryshnikov in New York. Beide Stücke, klassisch fundiert, sind in dieser Spielzeit in Düsseldorf und Duisburg zu sehen.
Was man zunächst von Aszure Bartons Gesicht entdeckt, sind ihre nachdenklichen, grauen Augen – und ein paar Haarsträhnen. Eine weiße Strickmütze hat sie über den Kopf gezogen und eine Corona-Maske über das Gesicht. Sie ist vorsichtig, auch zum Premierenapplaus war sie mit Mundschutz erschienen. Im Gespräch ist die 46-Jährige ganz fokussiert. Die Kapuze ihres dunkelblauen Hoodies liegt verdreht über ihrer Schulter – es stört sie nicht. Die kleine, zierliche Künstlerin erzählt von sich und ihrer Annäherung an Brecht: »Das Stück hat mich stark getriggert, weil es mich an Begegnungen aus meiner Vergangenheit erinnert. Ich habe es immer und immer wieder gelesen. Es ist ein extrem kraftvolles Werk.« Das Potenzial von Baal stecke in uns allen – auch wenn alle Menschen sich gerne selbst als die Guten inszenierten. Barton: »Von mir kann ich das mit Sicherheit sagen. Schon immer habe ich etwas Rebellisches in mir gehabt. Ich hoffe, ein guter Mensch zu sein, aber ich kenne meine dunklen Seiten und weiß, wozu ich fähig sein könnte.« Sie habe schon sehr jung rebelliert, indem sie Tänze gemacht habe.
Begonnen hatte alles im Alter von 14 Jahren an Canada’s National Ballet School in Toronto. Sie choreografierte ein Trio zu Gregorianischen Gesängen. Die Künstlerin lacht über ihre römisch-katholische Musikwahl wie über einen Streich. Das Bedürfnis zu tanzen hatte sie schon im Alter von drei Jahren, als sie mit dem Stepptanz begann. Aber nach ihren Ausbildungsjahren in Toronto, an der Royal Winnipeg Ballet School und der John Cranko Schule in Stuttgart war der Berufswunsch Tänzerin kein Thema mehr. Aszure Barton: »Ich hatte nicht genug Disziplin, und erhielt viel mehr Zuspruch beim Choreografieren. Dazu versammelte ich meine Freunde und wir schufen uns eigene Regeln. Ich habe damals schon nicht ins Ballettsystem gepasst«, schmunzelt die Künstlerin, »und ich tue es heute noch nicht«. Ihre Eigenwilligkeit erklärt sie sich mit der dominanten Mutter, einer Tänzerin. Barton: »Ich musste lernen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.« Von daher also eine gewisse Sympathie für den charismatischen Kerl, der sich geradezu wütend gegen die – bei ihr in schwarze Kostüme mit Halskrause gekleidete – Gesellschaft stemmt. Eine Gesellschaft, die sich mit ihm nur schmücken will.
»Baal« ist Bartons erstes Erzählballett. Bislang hat sie für die großen, internationalen Kompanien kreiert – vom American Dance Theatre über das Bolshoi Ballett, vom Martha Graham Dance Company bis hin zum Nederlands Dans Theater oder dem Teatro alla Scala. Aber narrative Werke hat sie immer abgelehnt, sie seien »etwas für Meisterchoreografen«. Doch nun habe sie »die Komfortzone der Sicherheit verlassen«. Der Auftrag vom Düsseldorfer Ballettchef Demis Volpi erreichte sie in einer Lebensphase, in der die Wahl-Kalifornierin künstlerisch mehr riskieren wollte.
Der Erfolg gibt ihr recht. Die Choreografin setzt die Stationen von Baals menschenverachtendem Treiben vor einer giftgrünen, multifunktionalen Kachel-Ecke in Szene, die von emotionaler Kälte spricht. 16 Episoden von imponierendem Erfindungsgeist ziehen rauschhaft vorbei, meist sind es bodennahe, organisch fließende und ganz eigene Bewegungen. Allerdings bedarf es schon einer gewissen Stück-Kenntnis oder des Programmhefts, um dem dichten Geschehen folgen zu können.
Der Protagonist verbindet in kraftvollem Duktus wilden Eigensinn mit hemmungslosem Spieltrieb. Er schleudert seine Bewegungen voller Verachtung für die Welt aus sich heraus – zu einer kongenialen zeitgenössischen Komposition der 34-jährigen Nastasia Kchrustcheva.
Höhepunkt ist Baals intensive Freundschaft zu dem Komponisten Ekart. Die beiden lassen die schwangere Freundin des Dichters zurück und finden einander in einem überwältigenden Duett. Sie tollen und klettern über- und untereinander zu dramatischen Klängen, schwer von Tragik und Wehmut. Denn diese Verbindung endet im Mord aus Eifersucht. Erzählballette kann Barton also. Auf dem Weg zur Meisterschaft ist sie allemal.
Der Abend »Come In« läuft noch bis 6. März im Theater Duisburg.
Das Programm »I am a Problem« ist bis 6. Mai im Opernhaus Düsseldorf zu sehen.