Da sitzt der große Hans-Michael Rehberg als Bewohner eines Altersheims und singt mit anderen »So ein Tag, so wunderschön wie heute«. Dann schlurft er über Flure, den Rollator vor sich, verläuft sich, findet sein Zimmer nicht, das »Wildschwein« heißt und neben »Marienkäfer« liegt. Später singt er alte Soldatenlieder – »und morgen die ganze Welt« und hebt zu den berüchtigten Worten »Jedem das Seine« die Hand. Wenn der Mann sonst alles vergessen hat, die braune Jugendweihe steckt in ihm drin. Am Ende hört er Schuberts »Winterreise« und weint. Es ist ein Elend mit den Menschen. »Rimini« ist auch, ja, ist vor allem das erschütternde letzte Dokument des Ausnahmeschauspielers Rehberg, der in einer frühen Phase der Dreharbeiten im November 2017 starb. Ihm hat Ulrich Seidl den Film gewidmet.
Eine Musikbox, die Schnulzen spielt; hydraulischer Fernsehsessel, Geweihe als Zierschmuck an den Wänden, Sitzecken, Hobbykeller, Gemütlichkeit. Im Heimeligen wohnt das Unheimliche gleich nebenan. Im ehemaligen Jugendzimmer mit Stereoanlage und einem Poster von »Ben Hur« Charlton Heston übernachtet Richie Bravo, zurück im burgenländischen Elternhaus, um die Mutter zu beerdigen. Sein Bruder Ewald und er holen den Alten (Rehberg) ab für die Bestattung seiner Frau. Am Grab singt Richie »Merci Chérie« von Udo Jürgens, das Lieblingslied der Eltern. In seiner geschmacklos scheußlichen Villa in Rimini steht auch ein weißer Flügel wie bei seinem berühmten österreichischen Kollegen.
Richie Bravo (Michael Thomas), natürlich sein Künstlername, ist – oder war – ein Schlagersänger; füllig, das lange blonde Haar strähnig wirr, die Hosen zu eng, das glitzernde Kreuz auf der offenen Hemdbrust, der ganze Kerl räudig wie sein Winterpelzmantel. Ulrich Seidls Bestiarium des Nachbarn Mensch kann uns oder soll uns peinlich sein. Hinschauen tut weh, vermutlich gerade deshalb, weil das, was wir sehen, ein wenig auch uns selbst zeigt.
Charme gibt es umsonst
Der Österreicher, besonders wenn er oder sie Künstler ist, ist ein Hasser oder vielleicht ein Liebender, der verschmäht wurde. Ulrich Seidl gehört zu dieser Gattung. Die Frage bleibt nur, die Fassbinder einmal an Claude Chabrol in einem Aufsatz gerichtet hat, der den Titel trägt: »Schatten freilich und kein Mitleid«, ob Seidl diese Empathie hat.
Vom einstigen Ruhm zeugen Richies Starplakate im Haus. Auf der Bühne trägt er Bauchbinde, damit der Glanzstoff seines Abendzugs halbwegs sitzt. Charme gibt es umsonst, Sex im Anschluss manchmal auch – gegen Geld. Welche der Nummern trauriger ist? – unentschieden. Wer einsamer ist, der tingelnde Mann in schlecht besuchten Sälen, leeren Restaurants oder schäbigen Hotelzimmern, der um Gagen feilscht und die Flasche griffbereit hat, oder sein zumeist weibliches Publikum – ebenfalls unentschieden.
Rimini im Winter – Palmen im Schnee, nass und leer und der Strand bunt von den Bauklötzen eines Kinderspielplatzes, grell leuchtende Spielhallen und Pauschaltouristen, die im Bus anreisen und mit dem Hotel den Auftritt von Richie gebucht haben. Im feuchten Dunst erinnert Seidls Rimini an Fellinis Heimatstadt, wie er sie in »Amarcord« als Erinnerungsort porträtiert hat.
Plötzlich steht eine junge Frau vor ihm, Tessa, seine Tochter (Tessa Göttlicher). 18 Jahre ist es her. Sie will Geld, das er nie bezahlt hat für sein Kind. Und sie bleibt – im Wohnmobil mit ihrem arabischen Freund, bis sie es bekommt. Schließlich nimmt Richie dem dementen Vater sein Erspartes.
Richie Bravo, so schäbig wie erbarmenswert und in einigen Momenten rührend verloren in seinem ramponierten Körper und Leben, ist ein Bruder des Archie Rice aus John Osbornes Theaterstück »Der Entertainer« und von Rupert Pupkin (Robert De Niro) in Martin Scorseses »King of Comedy«. Was einmal Rausch war, ist Kater, was einmal Lust war, ist Qual, was einmal halbwegs oben war, ist Erniedrigung. ****
»Rimini«, Regie: Ulrich Seidl, Österreich, Frankreich, Deutschland 2022, 110 Min., Start: 8. Oktober