Sie waren unzertrennliche Freunde. Bis sie 18 waren. Dann kam Vieles anders. Nach 35 Jahren sehen sie sich wieder, als Jim in seiner schäbigen Jacke frühmorgens auf der Hängebrücke über dem Oslofjorden steht und angelt und Tommy mit seinem eleganten grauen Mercedes langsam an ihm vorüberfährt. Damals, das war ihre Kindheit auf dem Land nördlich von Oslo, absolut verlässlich war ihre Freundschaft, immer sollte sie bleiben. Sie lebten und fuhren herum und sahen die Milchrampen und Gewächshäuser. Die roten Bergrücken im Herbst, das Mondlicht im Neuschnee. Und die BP-Tankstelle im Dorf. Sie lehnten ihre Fahrräder ans Geländer des Staudamms und blieben daneben stehen. Und dann radelten sie wieder los. Die Menschen im Dorf aber – zerbrochen. Jims Vater ihm unbekannt, seine Mutter ängstlich fromm. Tommys Vater ein Schläger, liebevoll tröstet Tommy die zerschundenen Körper seiner jüngeren Schwestern. Aber irgendwann geht das nicht mehr. »Nicht mit mir«: Eines Tages prügelt Tommy zurück und auch der Vater verschwindet, nachdem die Mutter längst davon und verschollen ist.
Der jüngste Roman des 1952 geborenen Norwegers Per Petterson ist keine Coming of Age-Geschichte, obwohl es ihm auch ums Erwachsenwerden geht. Entwickeln sich Dinge, Menschen? Eher knicken sie ab, trudeln ins Nichts jenseits der Wahrnehmung. Anderes bleibt dagegen für immer, das Leben ist kein vorankommender Punkt auf der Linie, nur ein immerwährendes Darinsein und Angestoßenwerden. 1966; 1970; 2006: das sind die Zeiten. Jim; Tommy; dessen Schwester Siri; der Erzähler: das sind die Stimmen. Die Sprache ist von lakonischer Poesie. Vertrauen bricht in Bewährungslagen (wie schon in Pettersons wunderbarem »Pferde stehlen«); sehr Vieles und sehr viele Menschen verschwinden. Und das Leben bleibt – bis man ihm ein Ende setzt.
Per Petterson: »Nicht mit mir«; aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger; Hanser Verlag 2014, 288 S., 19,90 Euro
Lesung am 24. September 2014 in der Buchhandlung Klaus Bittner, Köln