TEXT: MARTIN KUHNA
Nicht nur Literaturkundige, auch gestandene Katholiken kennen Telgte als Reiseziel: Zu Tausenden wallfahren sie jedes Jahr dorthin, genauer: zu einem holzgeschnitzten Gnadenbild der Muttergottes aus dem 14. Jahrhundert. Dieser Pietà zollt 1647 auch der »Student Scheffler« als Teilnehmer am Grass’schen Dichter-»Treffen in Telgte« Tribut. Die in Grass’ Erzählung erwähnten Wallfahrten begannen in großem Stil erst 1651, nachdem ganz nah bei Telgte der Westfälische Frieden dem vorgeblichen Religionskrieg in Europa ein Ende gesetzt hatte. Der Initiator, Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen, ließ der Muttergottes eine barocke Wallfahrtskapelle bauen; dort ist sie noch heute zu Hause. Unter zahlreichen Pilgerfahrten, die sich über die Saison von April bis Oktober verteilen, gilt jene von Osnabrück nach Telgte als größte Fußwallfahrt Deutschlands; am 7. und 8. Juli sind die Pilger wieder unterwegs.
Seit 1934 gab es bei der Kapelle ein »Wallfahrt- und Heimatmuseum«. Es wurde mehrfach erweitert, zuletzt 1994 durch einen modernen Bau für die stetig angewachsene Krippensammlung. Doch ein »Heimat- und Krippenmuseum« musste wohl dennoch an breiter Anziehungskraft verlieren. So entschlossen sich die Träger (Kreis Warendorf, Stadt Telgte, Bistum, Stadt und Handwerkskammer Münster), das Haus umzubauen und als »Westfälisches Museum für religiöse Kultur« völlig neu zu konzipieren. Noch immer spielt das katholische Leben eine dominierende Rolle – wie könnte es im Münsterland auch anders sein. Bedeutendstes Exponat, in eigenem neuen Anbau, ist das »Telgter Hungertuch« von 1623, mit dem zur Fastenzeit (Schmachtlappen!) die Gemeinde von Altarraum und Reliquien getrennt wurde. Großer Raum ist auch dem Helden des Bistums gewidmet, dem »Löwen« Clemens August Kardinal Graf von Galen. Doch Protestantismus, Judentum, Islam und andere werden nicht bloß pro forma oder herablassend abgehandelt.
Die konkurrierenden »religiösen Angebote« werden im Kontext des alltäglichen Lebens in Westfalen dargestellt – etwa anhand der bis heute unentbehrlichen »Übergangsriten« wie Taufe, Initiation, Hochzeit und Tod. Das Museum verschweigt nicht, dass Sinnstiftung anderer Art zuweilen mit sehr ähnlichen Mitteln arbeitet wie Religion, es zeigt auch Fußballgötter, Fanschals und andere Devotionalien. Das alles ist auf moderne Art lebendig präsentiert; von Katechismus oder katholischem Muff ist nichts zu spüren. »Religio«, gottlob, macht Spaß.
Und was trifft man nun sonst in Telgte? »Weihrauch, Gipsstaub, Dummheit und Armsünderschweiß« hat 1969 der »Es-Pe-De«-Wahlkämpfer Grass im Münsterland registriert. So schwarz ist das – übrigens seit 2010 von einem grünen Bürgermeister regierte – Telgte weiß Gott nicht (mehr). Wer an einem sonnigen Tag vom Markt her über die Kapellenstraße in Richtung auf die barocke Wallfahrtskirche und das Museum zu läuft, spürt, zwölf Kilometer von Münster entfernt, fast südlich-heiteres Flair. Cafés, Restaurants, Kneipen, genug Gelegenheit für lässliche Sünden. Darunter der Schauplatz des »Treffens in Telgte«, in dem Günter Grass fiktiv und barock verschlüsselt über eine Tagung der »Gruppe 47« in dem Städtchen berichtet. Zwar hat der Autor den »Brückenhof« beim Aufbruch der Dichter abbrennen lassen. Doch in der Stadt, die sich des anhaltenden Werbe-Effekts durch das Buch sehr bewusst ist, gilt das Fachwerkhaus Emsstraße 25 als Vorbild für den fiktiven Tagungsort. Es ist seit Urzeiten und bis auf den heutigen Tag eine Gaststätte. So derb wie 1647 im »Brückenhof« der Wirtin Libuschka geht es dort schwerlich zu; der traditionelle Name allerdings ist in dieser Hinsicht vielversprechend: »Im Wilden Mann«. Ein Schelm, wer da beim Bier an Grass, den Wutdichter denkt.