Salerno oder Gelsenkirchen? Unter touristischer Perspektive wird die Wahl wohl auf die Stadt am Golf fallen, den einst Odysseus von Ferne grüßte, bevor er sich an der Amalfitana im Selbstversuch den lockenden Stimmen der Sirenen aussetzte. Was Kultur angeht, muss sich Gelsenkirchen allerdings nicht vor dem archaisch-düsteren Salerno verstecken. Und wenn Lucia Ronchettis Stimme durch den Höllenlärm im Restaurant am Hafen wie der ferne Gesang einer Sirene dringt, vernimmt man nicht nur Schmeichelhaftes über die Musikpolitik im Lande. Aufführungen von avancierter Musik wie der ihren gebe es schon lange nur mehr sporadisch; was unter Berlusconi weggespart wurde, könne (und wolle) auch die Regierung Prodi nicht mehr auffüllen.
Nur um Geld für ihre beiden Kinder zu verdienen, unterrichte sie, die Römerin, als Musiklehrerin am Konservatorium in Salerno; Brotarbeit in einem chaotischen Institut und für Schüler, die wohl nie etwas mit moderner Musik anfangen werden. Zwar gebe es in Italien noch ein paar Initiativen und Enthusiasten, aber kaum noch Ensembles und schon gar kein Publikum, das Musik als Gegenstand der aktiven Auseinandersetzung und nicht als universelle Berieselung begreife. Deshalb sei sie glücklich, dass sie hin und wieder in Paris arbeiten könne, in Stuttgart oder gar Berlin, das mit seinen kulturellen Impulsen immer wieder als Ziel ihrer Wünsche auftaucht. Welcher Wünsche, will ich wissen. Aber da erscheint der feiste Ober, um die Bestellungen aufzunehmen. Unsere Stimmen gehen im Getöse der animierten Familien- und Freundeskreise unter…
Stille. Kaum ein Laut geht von den wenigen Gestalten aus, die sich unter der Nachmittagssonne im Musiktheater im Revier aufhalten. Die Ruhe verwandelt das Café der Gelsenkirchener Oper fast in eine Vergilsche Idylle – auch wenn die murmelnde Quelle durch einen Zapfhahn und die Hirten durch ein paar träge Bühnenarbeiter ersetzt sind. Im gedämpften Ambiente hocken der Regisseur Michael von zur Mühlen und die Berliner Bühnenbildnerin Anne Hölck und denken über das moderne Musiktheater nach. Seit zwei Wochen proben sie ein neues Stück, zu dem die junge Autorin Steffi Hensel den Text und Lucia Ronchetti die Musik beisteuern. »Der Sonne entgegen« ist der Titel, der nicht von ungefähr an die vollmundigen Versprechungen von Reisekatalogen erinnert. Gleich in der ersten Szene erscheint eine Horde westlicher Touristen, die in der Ferne ein schwankendes Flüchtlingsboot beobachtet. Aber niemand greift ein in das Treiben der boat people – lieber lässt man sich selbst, von TUI organisiert, angenehm treiben.
Später erscheinen Migranten in Nahaufnahme, getrieben von der Hoffnung auf Grenz-Überschreitung: Frauen aus Dafour und Ghana, eine Zwangsprostituierte aus Moldawien, ein Kindersoldat aus dem Kongo, Flüchtlinge aus der Geschichte. Die künstlichen Paradiese werden den neuen unwirtlichen Heimaten der Versprengten gegenüber gestellt, Intellektuelle debattieren selbstverliebt über die drohende Verflüssigung der Antarktis und die allgemeine »Deterritorialisierung«. Eine Eiskunstläuferin zieht ihre Kreise, ein Eisberg (musikFabrik-Mitglied Melvyn Poore an der Tuba) dröhnt und schwillt. So reiht Steffi Hensel fünf längere Episoden auf, verfasst in einer lakonischen, unsentimentalen Sprache und durchsetzt mit dokumentarischen Texten. Alle Personen werden von denselben fünfzehn Vokalsolisten dargestellt, die neben ihren Stimmen diverse Schlaginstrumente zum Klingen bringen. Anne Hölck will sie in einen Container pferchen, hinter dem der Horizont aufbricht: Um das Innen und das Außen geht es hier, um Freiheit und Entwurzelung, die Globalisierung des Kapitals und die zunehmende Heimatlosigkeiten der Menschen. Ein brennendes Thema, dem sich die Autoren mit dem Schamgefühl der Bessergestellten nähern. »In diesem Sinne«, schreibt Hensel, »ist es kein Stück über Migration und Migranten, sondern über mich, über uns und wie wir mit dem Thema (nicht) umgehen«.
Das Projekt wurde aus 40 Einsendungen für die Förderung durch den »Fonds Experimentelles Musiktheater« ausgewählt, die das NRW KULTURsekretariat jährlich gewährt (vgl. K.West vom Mai 2006). Dabei handelt es sich nicht um die übliche Vertonung eines Librettos, die auf ihre Bühnenrealität wartet. Voraussetzung für die ansehnliche Förderung mit 80.000 Euro ist kein fertiges Stück, sondern ein irgendwie packendes Konzept, das dann von den Autor(inn)en und der Regie in Gemeinschaftsarbeit realisiert wird – und in Koproduktion mit einem städtischen Theater, das von den Werkstätten bis zu den Schließerinnen die Infrastruktur bereit hält. »Die Zusammenarbeit hier muss sich noch einpendeln«, stellt von zur Mühlen fest, ohne sich sein Befremden über die institutionellen Dienstwege anmerken zu lassen. Gewöhnt an kleine, flexible Gruppen vor allem im Schauspielbereich, müssen sich Mühlen und Hölck in Gelsenkirchen erst mit langen Vorläufen und scharf geschnittenen Arbeitszeiten anfreunden. Für längere Experimentierphasen, wie sie die Ausschreibung eigentlich fordert und fördert, blieb bisher wenig Raum. Und noch haben Text und Musik ihre endgültige Form nicht gefunden. Bis zuletzt wird es ein work in progress sein – und die Progressivität liegt in der Gleichberechtigung aller Sparten.
»Was mich am meisten interessiert, ist weniger das Theater auf der Bühne, als das Theatralische der Musik, die Bühne im Kopf«, sagt Lucia Ronchetti, 1700 Kilometer entfernt im Hafenrestaurant von Salerno. Sie reicht mir ihr Werkverzeichnis über das cremige Dessert hinweg. Schon oft hat Ronchetti mit konzertanten Mitteln eine imaginäre Bühne hervorgezaubert. Im Kammerstück »Hombre de mucha gravedad« für vier Vokalsolisten und Streichquartett werden die Personen und die Bedeutung von Velazquez’ rätselhaftem Gemälde »Las Meninas« musikalisch umkreist; in den a-cappella-Stücken »Anatra al sal« und »Pinocchio« erleben alte Formen wie die Madrigalkomödie der Renaissance oder die Commedia dell’arte neue Interpretationen. In Ronchettis Salome-Version »The Last Desire«, die in ihrer Stuttgarter Realisierung mit von zur Mühlen den Ausschlag für den Förderpreis gab, wird das Warten als zentrale Erlebnisform unserer Existenz definiert. Die Auseinandersetzung mit der Tradition, aber auch ein Hang zur theoretischen Analyse zeichnen diese seltsam surrealen Entwürfe aus. Dass sie nie in trockene Theorie münden, ist Ronchettis reicher Klangfantasie und ihrer Erfahrung mit der menschlichen Stimme zuzuschreiben, der sie mit allen denkbaren Techniken und Farben auf den Grund geht. Im neuen Stück wird sie dazu viel Gelegenheit finden. Und warum sollte sie eines Tages nicht ihre Konservatoriums-Ketten in Salerno abschütteln und in die Traumstadt Berlin finden – und sei es über den Umweg Gelsenkirchen?
»Der Sonne entgegen«, Musiktheater für 15 Gesangssolisten, Blechbläser und Live-Elektronik; Musik: Lucia Ronchetti; Text: Steffi Hensel; Regie: Michael v. zur Mühlen; Ausstattung: Anne Hölck; Live-Elektronik: Thomas Seelig; musikFabrik – Leitung: Aslan Geisler / Daniel Gloger; Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier (Kleines Haus). Uraufführung am 12. Mai 2007, weitere Vorstellungen am 19. und 20. Mai 2007.