// Auf die Frage, was »Heimat« für ihn sei, antwortete Goethe einmal: »Alle diese vortreff-lichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne.« Obwohl sich der weise Geheimrat im Leben auskannte, hatte er mit dieser Formel natürlich nur zum Teil recht. Denn nicht jeder, der sein berufliches oder privates Glück in der Fremde gefunden hat, ist schließlich gleichzeitig immun gegen ein Gefühl, das man Heimweh nennt. Ob das Vertraute nun freiwillig zurückgelassen wurde oder es politische, ideologische, wirtschaftliche Zwänge waren – auch der zweite Weimarer Großklassiker Schiller machte es sich idealerweise zu einfach, als er behauptete: »Der wackre Mann findet überall seine Heimat«.
Gegen diese Einschätzungen sprechen auch die Programme, mit denen die Kölner MusikTriennale 2010 die Begriffe »Heimat« und »Heimatlosigkeit« genauer betrachten will. Wie es bei dem seit 1994 im Drei-Jahres-Rhythmus stattfindenden Musikfestival zum avanciert guten Ton gehört, widmet es sich dabei nahezu ausschließlich Werken des 20. und 21. Jahrhunderts. Einem Zeitraum mithin, in dem mehr denn je »ethnische Säuberung«, Vertreibung und Flucht zur Entwurzelung führten – und die Frage nach Identität und Authentizität neu aufgeworfen werden musste und muss. Auch und gerade, wenn man an die Globalisierung und das Internet denkt.
Der dreiwöchige Konzertmarathon, der vom 24. April bis 16. Mai nicht nur in der Kölner Philharmonie ausgetragen wird, ist aber weder kopflastig noch spröde. Wie schon in den letzten Editionen sind es erneut namhafte Interpreten aus Klassik, Jazz und Weltmusik, die ein international facettenreiches Spektrum von der gro-ßen Symphonik über Uraufführungen bis zum Kunstlied bieten. Neben den vom Keller Quartett, der Sopranistin Stella Doufexis und dem Ensemble Intercontemporain gestalteten Heimat-Schwerpunkten Ungarn, Griechenland und dem Kontinent Olivier Messiaen als Doyen nicht allein der französischen Avantgarde stehen besonders zwei Konzertprojekte für das Spannungsfeld zwischen Weltläufigkeit und verankerter Identität.
Der bis in die Handgelenke spitzenathletisch durchtrainierte Percussionist Martin Grubinger aus Österreich bereist mit »The Percussive Planet« alle fünf Erdteile. Begleitet wird er bei seinen Abstechern zu dem Europäer Richard Strauss oder der Asiatin Keiko Abe von dem mit Blechbläsern, Streichern und Schlagwerkern besetzten Percussive Planet Ensemble.
Mit dem Doppelkonzert »Verlorene Heimat« setzt dagegen der englische Violinist Daniel Hope seine Recherche nach den eigenen jüdischen Wurzeln fort. Mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem Klezmer-Klarinettisten David Orlowsky erinnert er dabei an Komponisten wie Kurt Weill, Erich Wolfgang Korngold, Hanns Eisler und Béla Bartók, die (wie Hopes jüdische Großeltern) vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten.
Auch Karlheinz Stockhausen wurde in jungen Jahren von den Grausamkeiten der Nazi-Diktatur geprägt. Im Gegensatz zu seinem späteren musikalischen Mitstreiter Luigi Nono, der die Musik als Erinnerungs- und Kampfmittel verstand, suchte er sein künstlerisches Heil jedoch im Glauben – im Katholizismus und in asiatischen Lehren. Dieser Erz-Spiritualist sah das irdische Dasein nur als Zwischenstation auf der Reise zu seinem Heimatplaneten Sirius an: dort, wo für ihn »die Musik am vollkommensten entwickelt ist, da für die Bewohner die Musik die höchste Form aller Schwingungen ist«. 2007 konnte Stockhausen den letzten Weg dorthin antreten. Doch zuvor hatte er noch seinen großen Zyklus »Klang – Die 24 Stunden des Tages« fast vollenden können, den nach dem Opern-Zyklus »Licht« zweiten Teil seiner musikalischen
Schöpfungsgeschichte. Zwischen 15 Minuten und einer knappen Dreiviertelstunde dauern die 21 (von 24 geplanten) vorrangig kammermusikalischen Moments Musicaux. Zwar wurden bereits einzelne Teile uraufgeführt, doch präsentiert das Ensemble musikFabrik nun erstmals den nahe-zu kompletten Zyklus während eines zweitägi-gen Wandelkonzerts an neun verschiedenen Spielstätten.
Ein weiterer Wegbereiter der Moderne, der geradezu zum Inbegriff des rastlosen Wanderers geworden ist, darf bei der MusikTriennale 2010 nicht fehlen: Gustav Mahler, der sich nach eigenen Worten in dreifacher Hinsicht heimatlos gefühlt hatte, als Böhme in Österreich, als Österreicher in Deutschland und als Jude in der Welt. Die Wiener Philharmoniker spielen seine 1904 in Köln uraufgeführte 5. Symphonie (die übrigens Markus Stenz mit dem Gürzenich-Orches-ter soeben frisch aufgenommen hat). Glaubt man den damaligen Briefen des Dirigenten Mahler an seine Frau Alma, in denen er vom Orchester und auch von der Stadt Köln schwärmte, schien er sich am Rhein für einen kurzen Moment heimisch gefühlt zu haben. //
24. April bis 16. Mai 2010; www.musiktriennale.de