TEXT: SASCHA WESTPHAL
Skandal provozieren wie zu wilhelminischen Zeiten kann Frank Wedekinds Kindertragödie nicht mehr. Moralvorstellungen und Sexualität haben sich derart emanzipiert, dass man auf die Prüderie und Verdrängungsmechanik wie auf etwas Museales schaut. Aber das Stück in seinem düster-romantischen, pubertären Drängen verdichtet auch Nöte, Begehren und Sehnsüchte Heranwachsender zu einem morbid melancholischen Totentanz.
Wie aktuell die Tragödie noch ist, beweist eindrucksvoll Karsten Dahlems Bearbeitung für das Theater Oberhausen, die Wedekinds Personal auf zwei Erwachsene und eine Clique von fünf Teenagern reduziert und – in Zusammenarbeit mit einer Gruppe lokaler Jugendlicher – sprachlich modernisiert. So lassen sich einzelne Motive des Stücks klarer herausarbeiten. Grundstruktur und zentrale Konflikte aber bleiben erhalten. Die etwas naive, erstverliebte Wendla (Elisabeth Wolle) will ihren 14. Geburtstag im »Haus der Jugend« feiern. Außer ihren Freundinnen, der rebellischen Ilse (Manja Kuhl) und der von ihren Eltern misshandelten Martha (Nora Bulzaka), sind nur noch Melchior (Sergej Lubic) und Moritz (Eike Weinreich) gekommen. Aber das stört nicht weiter, schließlich haben sie Musik, Bier und Zigaretten. Viel unangenehmer ist der Überraschungsbesuch von Wendlas konservativer Mutter (Anna Polke), die in ihrer Tochter noch das kleine Mädchen sehen will. Sobald die Jugendlichen wieder unter sich sind, geht die Feier weiter, als sei nichts gewesen. Aber das scheint nur so.
Dahlem und seine Ausstatterin Inga Timm nutzen für ihr Außenprojekt, das Begrenzungen des klassischen Theaterraums sprengt, nicht nur den Saal, sondern das Haus der Jugend insgesamt. Das Publikum bewegt sich mit den Akteuren durch Gänge und Räume der Jugendkunstschule – auf Spuren der Lebenswirklichkeit von Wendla und Co. So erschießt sich der verzweifelte Moritz in seiner Angst, seine Eltern enttäuscht zu haben, im Innenhof: vor den Augen der Zuschauer, die ihm bei seiner Tat vom fernen Panoramafenster aus zusehen. Handlungen und Verhalten in ihrer emotionalen Wucht sind greifbar nahe, aber fern unseres Zugriffs.