»Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.« Sagte Angela Merkel auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise. Ein bisschen weiter oben auf der Landkarte Europas gilt der Satz nicht weniger.
Ankunft syrischer Flüchtlinge 2016 im Nordosten Englands nahe bei Durham, in der einstigen Bergbaugemeinde Easington, wo längst die Kohlegruben stillgelegt sind und die soziale Misere größer geworden ist. Die Exilanten waren lange in einem Camp untergebracht und sollen nun ‚integriert’ werden, die Kinder zur Schule gehen und auf dem Sportplatz dabei sein, Familien in leer stehenden Häusern ein Zuhause bekommen.
Unversöhnliche Fronten. Hier diejenigen, die den Menschen in Not helfen, dort die anderen, die den Zuzug ablehnen, entweder weil sie Sorge haben, dass ihre Wohngegend sich verändert und ihre Häuser vollends an Wert verlieren, oder weil sie Ausländer (»Kanacken«) grundsätzlich bashen und ihr eigenes Elend durch kollektive Fremdenfeindlichkeit und rassistische Sprüche und Tätlichkeiten (»Holt Euch Euer Land zurück«, was für uns wiederum bekannt klingt) vergessen machen und sich so besser fühlen. Der Wirt des Pubs The Old Oak, der knorrige Tommy Joe Ballantyne (Dave Turner), steht dazwischen, aber bald schon bezieht er Position.
Regisseur mit Tugendideal
Sein Lokal ist so etwas wie Marktplatz, Sozialstation, Pfarr- und Rathaus in einem. Mehr Infrastruktur ist nicht mehr. TJ kennt das Arbeitsleben im Abseits. Im Hinterzimmer der Kneipe, dem ehemaligen Versammlungssaal, hängen Schwarzweißfotografien der Zechen, vom Großen Streik und dem gemeinsamen Widerstand der Kumpel gegen Maggie Thatchers Radikalprogramm oder die Smartness von New Labour, ganz egal. Manch ein Einwohner hat außerdem irische Wurzeln, weiß also, wie es sich anfühlt, nicht respektiert, unterdrückt und gedemütigt zu sein.
Solidarität ist also ein Urinstinkt, den TJ reaktiviert. Und seinen gerechten Zorn dazu. So sehen Helden aus. Er richtet mit engagierten Freund*innen in seinem Pub backstage eine kostenlose Gemeinschaftsküche und einen Treffpunkt ein, was nicht allen Stammgästen schmeckt. Auch wenn er zunächst die Klappe gegenüber seinen krakeelenden Gästen hält, steht er der syrischen Yara (Ebla Mari) zur Seite, die sich um die alltäglichen Probleme ihrer Leute kümmert und das, was sie sieht und bewahrt wissen will, fotografiert. Bald auch die Frauen im Ort. So beginnt die Annäherung. Sie hellt die Tristesse auf, ohne dass die Schatten wettgewischt würden. Auch die Aggression wird nicht geläutert. Sie bleibt.
TJ hat sein Schicksal und Yara hat das ihre. Jeweils ein anderes. Aber über die Schmerz- und Leid-, Verlust- und Todeserfahrung begegnen sie sich. Freundschaft und compassion sind möglich. Ken Loschs Tugendideal, das er seit einem halben Jahrhundert Filmgeschichte bewahrt, ist nicht altmodisch, es scheint nur aus der Mode unserer Diskurse, Theorien und komplexen Analysen gekommen.
Man könnte hochtrabend sagen, der Film sei ein Plädoyer für kulturellen Austausch und praktizierte Mitmenschlichkeit, aber für große Worte und politische Phrasen haben Ken Loach und sein Autor Paul Laverty noch nie etwas übrig gehabt; das passt nicht zu ihren Filmen und nicht zu den Menschen, von denen sie erzählen: konkret, empathisch, der Gegenwart zugewandt um der Zukunft willen. Ja, gewiss, das ist Arte Povera. Die FAZ hat letzter Tage vorgerechnet, dass »The Old Oak« gerade mal 1,2 Millionen Dollar gekostet hat und damit weniger als ein Prozent gegenüber Ridley Scotts kolossalem »Napoleon«-Schlachtenmonument.
Das aktivistisch Nimmermüde, Honorige von Ken Loachs emotionaler Direktheit in der und durch die Kunstform Film mag man für naiv und wirklichkeitsfremd halten. Aber, Hand aufs Herz, dann ist es die Bergpredigt auch (die Muslima Yara besucht einmal mit TJ eine gotische Kathedrale, hört einen Choral und beobachtet eine Gruppe englischer Kinder) – oder das Kommunistische Manifest.
»The Old Oak«, Regie: Ken Loach, GB 2023, 110 Min., Start: 23. November