Die 47. Duisburger Filmwoche steht unter dem Motto »Im Geradeaus verlaufen« und bringt selbst unvereinbar Gegensätzliches in erhellende Beziehung. Ein Streifzug durch das Programm mit Filmen aus und über Israel, Österreich und Deutschland.
Der Eröffnungsfilm »Wankostättn«
Er selbst spricht von sich und seinen Leuten auch als Zigeuner; er benutzt die Begriffe Sinti, Roma und Zigeuner parallel, ohne die Unsicherheit und Bedenklichkeit, mit der Nicht-Angehörige seines Volkes dies tun müssten. Karl Stojka erinnert sich. Der alte Herr mit rundem Kopf, weichem Gesicht und grauen Locken, gekleidet im hellen Anzug, mit Hut und Spazierstock, wandert durch den Zehnten Bezirk in Wien und berichtet. Wie nicht selten ist ein Ort mit ambivalenten Empfindungen verbunden. Der Platz »Wankostättn«, der dem Film von Karin Berger auch den Titel gibt, mit der katholischen Kirche war ein Halte- und Aufenthaltspunkt, wenn die Nicht-Sesshaften, die mit ihren Wohnwagen in die Stadt kamen, sich verabreden und einrichten wollten. Zugleich wurde von dem Platz aus die Deportation von tausend Sinti und Roma eingeleitet und durchgeführt. Auch die Großeltern, ein in Österreich bekannter Pferdehändler, der Vater und dessen Geschwister hätten dort gelebt (anschaulich werdend durch historisches Fotomaterial), sagt Karl Stojka. Selten habe er die Erfahrung gemacht, unfreundlich und feindselig aufgenommen und behandelt worden zu sein, bis die Nazis ihre Vernichtungspolitik umsetzten. Als erstes sei der Wohnwagenpark eingezäunt worden: »das erste Konzentrationslager«, überwacht von Gestapo und SS. Bald darauf sei kein Mensch mehr da gewesen – verschleppt nach Treblinka, Mauthausen oder Auschwitz. An dem Ort existiert keine Gedenktafel, kein Zeichen. »Wenn ich hier wieder weggehe, bin ich ganz leer.« Der 14-Jährige Karl wurde auf einem Todesmarsch am 27. April 1945 befreit von den Amerikanern. In seiner Wohnung zeigt Stojka später einen deutschen Stahlhelm, in den eine Axt hineingeschlagen worden ist – Symbol für das, was war. (Mo, 6. Nov., 20 Uhr, jeweils im Filmforum am Dellplatz)
»One of us now« von Maya Steinberg
Maya Steinberg, aufgewachsen in einem liberalen Elternhaus, hatte den »Schock« zu verkraften, dass ihr Vater sich vor 15 Jahren zu einem strenggläubigen Juden bekehrt hat. Der Vater bleibt in dieser Spurensuche durch ein regennasses Galiläa unsichtbar (wie er für die Tochter in gewissem Sinn geworden ist), aber sie sucht Schauplätze und Situationen seines neuen Lebens auf: Bethäuser, religiöse Riten und Zeremonielle der Gemeinde, eine koschere Küche, ein Hutgeschäft, von Gott enthusiasmierte Frauen und Männer, die frommen Orte Safed und Meron. Sie selbst lebt in Partnerschaft mit einer Frau, die sie, Maya, auch bei dieser Recherche filmt. Konfrontiert mit exklusiver Heilsgewissheit und Gottgefälligkeit, betrachtet sie dies Fremde wie eine Ethnologin, ist davon berührt – vielleicht nicht ausschließlich unangenehm – und kleidet sich, wie um eine Rolle zu probieren, als chassidischer Eleve ein. Die akuten, zum Zerreißen gespannten Konflikte der israelischen Gesellschaft scheinen hier in einer Person zusammenzulaufen. (Di., 7. Nov., 9.30 Uhr)
»Stillstand« von Nikolaus Geyrhalter
Gesperrte Straßen, leere Terminals, Flugzeuge, die am Boden bleiben, Geister- Straßenbahnen, geschlossene Geschäfte und Lokale, Schulen, Kirchen und weitere öffentliche Einrichtungen, die menschenlose Wiener City, der verwaiste Prater. Vermummte Menschen. Tests, Impfungen, Labore. Isolation und Versuche, sie zu überwinden. Maßnahmen. Demos. Indirekte Kommunikationswege. Allein gelassene Menschen. Die Maske! Der Schrecken ist leise und kehrt hier in unser Gedächtnis zurück, wo wir ihn doch am liebsten tief begraben würden. Ende 2019 / Anfang 2020 verbreitet sich das Corona-Virus weltweit. Mehr als 22.000 Leben kostet die Pandemie in Österreich. Nikolaus Geyrhalter dokumentiert sie in seiner – von Interviews mit Mediziner*innen, Zuständigen bei Behörden, Politikern, Radikalgegnern und Nachrichtensendungen begleiteten – Chronik. Eindrücklich zeigt sie, wie eine Gesamtgesellschaft in all ihren Funktionen, Systemen und Segmenten sich neu justiert, solidarisiert, spaltet, gesund realistisch handelt – und fortbesteht. (Di., 7. Nov., 14 Uhr)
»Die richtige Haltung« von Ole Steinberg & Jonas Hermanns
Ein historischer Stich zeigt Frau Erde, die vor dem Gottesthron steht und einen Bergmann verklagt, dass er mit seinem Tun ihren Schoß ausraube. Der Erdenmensch kontert, dass sie die Erz- und Silberadern tief in ihrem Innern verberge und ihn geradezu in den Tod hineintreiben würde. »Die richtige Haltung« ist eine Meditation über den Bergbau und das elend karge Fristen im Erzgebirge. Ein Heimatfilm im besten Sinn. Und ein konzentriertes Lehr- und ambitioniertes soziales Aufklärungsstück mit einer Materialfülle an Bildern, Fotografien, Figuren aus tragbaren sogenannten Buckelbergwerken, Texten, Sinnsprüchen, Liedern, die entlang der Zeiten ausgelegt werden: streng, protestantisch, brechtisch, geistvoll und kritisch komponiert. Erzähllinien etwa streifen auch Mozarts »Zauberflöte« in Schinkels Bühnenbildentwurf, die Romantik mit dem Montanbeamten Novalis, Heines »Harzreise« und im Besonderen die Phase des Industriezeitalters mit ihrer Ausbeutung von Kohle und Mensch. Was aber ist die richtige Haltung? Die gebückte, dienende, unterwürfige. Darin kommen sich der Bergmann und der Gläubige nahe und auch der frühere Bürger gegenüber der Staatsmaschine und Obrigkeit, den Macht- und Eigentumsverhältnissen. Das Sprachbild vom In-die-Grube-Fahren begegnet uns gleichermaßen konkret wie metaphorisch. (Di,. 7. Nov., 20 Uhr)
Die Dokumentarfilm-Trilogie »Einzeltäter« von Julian Vogel
Staatliches Versagen: seiner Schutzfunktion, Fürsorgepflicht, Empathie, seines Gleichheitsgebots in Bezug auf seine Bürger. Drei Verbrechen, drei (versuchte) Massenmorde. Am 22. Juli 2016 tötet ein 18-Jähriger in München neun Menschen. Am 9. Oktober 2019 versucht der rechtsextreme Stephan Balliet in die Synagoge in Halle einzudringen und die gläubigen Juden am Feiertag Jom Kippur umzubringen. Als ihm dies misslingt, tötet er die Passantin Jana L. und in einem Dönerladen Kevin S. Am 19. Februar 2020 in Hanau erschießt der 43-jährige Tobias Rathjen neun Personen mit Migrations-Biografien, danach seine Mutter und sich selbst.
Rassistische Motive verbinden die Attentäter und Taten. Ebenso, dass sie ihrem Wesen nach nicht oder spät erkannt werden. Zu Gehör kommen Angehörige der Opfer, Zeugen, Experten und Anwälte. Beleuchtet werden ihre Initiativen, Protestaktionen und ihr Kampf um das richtige Wort, um die Deutung und Einordnung der Untaten als ausländerfeindlich und rechtsextremistisch. Das Verlangen nach »Wahrheit« vereint die gesammelten Stimmen, ebenso Empörung, Verzweiflung, Trauer und Schmerz über Unterlassungen, Unzulänglichkeit und Verleugnung durch die Sicherheitsbehörden und politischen Autoritäten. Eine bedrückende und erschütternde Recherche und Nach-Ermittlung. (Mi, 8. Nov., 10, 11.45, 13.15 Uhr)