Ist weniger mehr?
Es ist ein anwachsender Trend, sich mehr auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Die über 40-Jährigen haben nach Midlife-Crisis und Burn-out keine Lust mehr auf das Hamsterrad des Habenwollens, weil sie am eigenen Leibe erfahren haben, dass Besitz nicht glücklich macht. Downsizing, das Reduzieren des Arbeitspensums auf Kosten des Gehalts, und Minimalismus, das Reduzieren von Besitz und Gütern, sind zum Lifestyle avanciert. Und die heutigen 20- bis 30-Jährigen planen von vornherein ihr Leben mit einer besseren Work-/Family-Balance, inklusive Teilzeitstelle, Sabbat-Jahren und viel Zeit für Reisen.
Die psychologische Forschung zeigt, dass sie damit auf gutem Weg sind, denn hunderte von Untersuchungen in aller Welt belegen, dass Materialismus, der Gedanke, dass Besitz oder Geld glücklich machen, tatsächlich die Lebenszufriedenheit senkt. Zwar verschafft uns das Kaufen einen kleinen Kick im Belohnungssystem unseres Hirns, jedoch sind diese Glücksgefühle nicht anhaltend. Langfristig macht die ständige Jagd nach dem Geld unglücklich und führt in die Einsamkeit, wenn kaum noch Zeit für die Freizeit vorhanden ist und Familie und Freundschaften nicht mehr gepflegt werden können. Materialisten sind zudem im Dauerstress, weil sie sich in einer nicht enden wollenden Spirale befinden. Hat man ein materielles Ziel erreicht, gibt es immer ein höheres, das man erreichen will: Habenwollen wird zu Mehrhabenwollen wird zu Nochmehrhabenwollen. Dies erscheint vielen irgendwann als sinnentleert und macht seelisch wie körperlich krank.
Vom teuflischen Haben und mönchischen Sein
Erich Fromm lehrte schon vor 50 Jahren in seinem Weltbestseller »Haben oder Sein«, dass eine Konzentration auf Sein statt Haben nicht nur unseren Planeten retten könnte, sondern uns auch ein produktives und glückliches Leben bescheren kann. Für Fromm sind Materialisten nichts weiter als auf einer frühen Entwicklungsstufe stehen gebliebene Kleinkinder, die alles in den Mund stecken, was ihnen angeboten wird. Sein ist demnach das Gegenteil von Haben und von Schein. Eine Haltung zu sein beinhaltet Lernen, Erinnern, Reden, Lesen, Wissen, Glauben und Lieben und berührt keinerlei materielle oder erzwungene Aspekte. Nur im Sein könne man sich selbst verwirklichen und seine kreativen Potenziale wecken. Nur im Sein könne man lernen zu lieben.
Für Fromm ist dieser Zustand allein durch vollständigen Verzicht auf materielle Güter zu erreichen. So hilfreich das für das Klima und die Bekämpfung der Armut wäre, so wenig attraktiv erscheint uns dies. Bei allen Trends zu einem minimalistischen Leben bewegen wir uns doch in der westlichen Welt auf hohem Konsum-Niveau. Auch Minimalisten kleiden sich nicht wie Mönche, graben nicht irgendwo im Wald nach Essbarem oder verzichten auf Bücher, Reisen oder Sportgeräte. Zudem können wir uns den Verzicht nur leisten, wenn wir ansonsten abgesichert sind, wenn wir versorgt werden und zum Beispiel eine Krankenkasse haben. Verzicht und Wenig-Haben ist also relativ.
Psychologisch anzuraten: Erlebnisse kaufen!
Fromms Ansichten wurden von vielen Seiten, auch von unserem Forschungsteam an der Ruhr Universität Bochum, kritisiert – vor allem das Schwarz-Weiß-Denken seines Ansatzes ist problematisch, denn schließlich braucht man, um zu sein, nicht selten materielle Güter. Der Geiger braucht eine Geige, der Schüler Bücher und jemand, der für ihn die Ausbildung finanziert. Manche Güter sind Mittel zum Zweck – wir haben sie, um zu sein. Aus diesem Grunde haben wir Haben und Sein in Mittel und Ziele unterschieden und argumentiert, dass Haben um zu Haben (ein Fahrrad haben, um es zu besitzen) tatsächlich die Lebenszufriedenheit senkt, dass aber etwas haben zu wollen, um damit zu sein (das Fahrrad haben, um damit Radtouren mit Freunden zu machen) das persönliche Glück steigern kann.
Tatsächlich scheinen gerade solche Güter, die viele Aspekte des Seins abdecken, heutzutage besonders begehrt zu sein. Mittel zur Selbstverwirklichung wie Musikinstrumente, Sportgerät, Künstlerbedarf etc. werden zunehmend gekauft, selbst von Menschen, die behaupten, wenig am Konsum interessiert zu sein. Allerdings kosten auch diese Erlebnisgüter Geld, genauso wie essen gehen oder Reisen. Faktisch erwächst aus dem gestiegenen Interesse gerade eine ganze Industrie für Erlebnisgüter. Wie von uns angenommen, bestätigen Konsumentenforscher wie Tom Gilovich den günstigen Einfluss von Erlebnisgütern auf die Lebenszufriedenheit. Während der Wert bei materiellen Gütern in dem Moment abnimmt, in dem man sie kauft – die teure Vase oder ein Auto etwa, werden mit der Zeit immer weniger attraktiv – so steigert sich der Wert von Reisen, Essen mit Freunden, Sportevents und Theaterbesuchen über die Zeit hinweg. So wird die Erinnerung an solche Ereignisse mit dem zeitlichen Abstand immer positiver; mag man sich beim gestrigen Opernbesuch noch über die schlechte Bestuhlung erregt haben, erinnert man sich in zehn Jahren an den herrlichen Abend. Zu-dem werden Erlebnisgüter häufig mit anderen konsumiert, was für das Rudeltier Mensch ihren Wert erhöht.
Sammeln – ein Erlebnis oder eher verrückt?
Alle pro- und antimaterialistischen Trends überstanden hat das Sammeln. Menschen sammeln nahezu alles: Murmeln, Fußballerbildchen, CDs, Autogramme, Kotztüten, Kartenspiele, Uhren, Postkarten, Kakteen, Stofftiere, Videogames. Das Sammeln wurde bis dato in der Psychologie entweder als harmloses Überbleibsel unserer Evolution gesehen (weil das Horten von Vorräten ein Überlebensvorteil war), oder pathologisiert. Natürlich neigt die Psychologie seit jeher zum Blick auf das Defizitäre, untersuchen klinische Psychologen doch Störungen und versuchen Therapeuten, diese zu behandeln. In den 1990er Jahren wurde jedoch erkannt, dass dieser Blick auf Probleme menschliches Verhalten nicht in seiner Gesamtheit zu erklären vermag. Schließlich meistern die meisten ihren Alltag und auch dieses Gelingen sollte psychologisch erklärt werden. Die Positive Psychologie setzte sich daraufhin zum Ziel, gerade das Gute, das Gelingen, die erfolgreiche Zielerreichung zu untersuchen.
Das Phänomen des Sammelns ist ein gutes Beispiel für den Vorteil einer positiven Betrachtung. Erklärt man es kategorisch zum unerwünschten Verhalten, würde man Kunstsammlungen genauso abwerten wie das recht übliche Sammeln von Musik eines bestimmten Künstlers oder von Büchern eines Lieblingsautors. Zudem sammelt fast jeder Mensch irgendetwas; da erscheint die Frage nach der Funktion sinnvoller, als nach einer Intervention, durch die versucht würde, ein sozial akzeptiertes und häufig auftretendes Verhalten zu verändern.
Dabei soll nicht verharmlost werden, dass manche Menschen unter Sammelzwang leiden, der von Klinikern häufig als pathologisches Horten bezeichnet wird. Laien ist das Phänomen als Messie-Syndrom bekannt; es zeichnet sich durch ein aus der Bahn geratenes zwanghaftes Horten von allen möglichen Gegenständen aus, nebst der anhaltenden Schwierigkeit, etwas wegwerfen zu können und einer Vermüllung der Wohnung, die teils die Sicherheit der Mitbewohner gefährdet. Ein solches Verhalten verursacht häufig Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Diese Art zu sammeln unterscheidet sich damit fundamental von sozial verträglichen Formen wie Kunstsammeln, dem Sammeln von Kakteen oder Briefmarken.
Alles gut? Warum wir sammeln
Da es über diese gewöhnliche Art zu sammeln kaum wissenschaftliche Arbeiten gibt, widmete Bastian Hardt in unserem Lehrstuhlprojekt in Bochum eine Masterarbeit zu den Motiven des Sammelns. Die Literaturrecherche sowie eine eigene Fragebogenstudie ergaben, dass Sammeln einen deutlichen Erlebnischarakter hat. Es wird als nachhaltig beglückend empfunden, von Ausnahmen wie finanziellen Entgleisungen oder einer zu starken Vereinsamung durch das Hobby abgesehen. Den meisten von uns macht es Spaß, sich für eine bestimmte Sammlung einzusetzen. Schon die Wahl, was man denn sammeln möchte, erfolgt mit Freude und befriedigt die zwei sozialen Grundbedürfnisse, die sich häufig diametral gegenüberstehen: zu einer Gruppe dazuzugehören und dabei gleichzeitig etwas Besonderes, ein Individuum zu sein.
Eine Sammlung hat den Vorteil, dass es üblicherweise Gruppen gibt, die schon das gleiche sammeln; gleichzeitig aber ist die eigene Sammlung häufig einzigartig und damit ein Zeichen von Individualität. Eine besondere Sammlung wird von den Peers gelobt und hebt so, selbst wenn es dem Sammler nicht um den materiellen Wert geht, den Selbstwert. Allerdings waren der Wettstreit oder die Statuserhöhung bei den von uns getesteten Sammlern nicht zentral; es überwogen Motive der emotionalen Verbundenheit und der Identität. Sammeln ist oftmals ein konstantes Verhalten, das Moden gegenüber immun sein kann. Der Sammler investiert in »sein Ding« und spürt sich selbst in dieser Eigenwilligkeit. Viele Sammler suchen daneben auch Kontakt zu anderen – Messen, Sammlerbörsen, Facebook-Gruppen geben die Möglichkeit, Gleichgesinnte und Neues kennenzulernen. Sammeln ist im Gegensatz zum Kaufen einzelner Konsumgüter auch von hoher Leidenschaft geprägt, sowohl was die Beschaffung als auch häufig die Präsentation angeht. Sammler steigern sich also in ihr Sujet und arbeiten sich ein. Nicht selten ist Sammeln auch von einem eigenen Literaturstudium und/oder einer intensiven Internetrecherche begleitet. Man erwirbt Hintergrundinformationen, studiert Auktionskataloge, besucht Messen, schaut YouTube-Videos zum Thema.
Damit erhöht Sammeln, wie jedes andere Hobby, die Selbstkomplexität des Menschen. Menschen sind, so die Sozialpsychologin Patricia Linville, komplexer, wenn sie mehrere Tätigkeitsgebiete haben, in denen sie Freude erleben, Wissen erwerben, Erfolg einfahren können. Hohe Selbstkomplexität hat einen Vorteil, vor allem dann, wenn ein Hauptbereich des Lebens gefährdet ist. Erlebt man Misserfolge zum Beispiel im Beruf oder gibt es in der Familie Probleme, helfen zusätzliche Tätigkeiten wie Hobbies oder Sport, mit diesen unangenehmen Ereignissen fertig zu werden. Sie sind so etwas wie Puffer gegen Krisen und Stress und zählen zu den Resilienzen eines Menschen. In unserer Studie berichteten Sammler, dass ihr Hobby sie entspannt und zufrieden stimmt, dass es ihnen Spaß macht, selbstgesetzte Ziele zu erreichen.
Diesen vielen positiven Aspekten sind auch negative entgegenzuhalten. In unserer Studie gab es Überschneidungen zwischen Sammelverhalten und Materialismus; tatsächlich handelt es sich bei vielen Sammlerstücken, wie bei allen Konsumgütern, um Objekte, die weder ökologisch korrekt noch unter fairen Bedingungen produziert werden. Prinzipiell erhöht die Ansammlung von »Zeug« den ökologischen Fußabdruck. Auf der anderen Seite aber ist es recht schwierig, in einer materialistischen Struktur den Konsumverführungen ständig zu widerstehen. Aus diesem Grunde, so die Forschung, ziehen Menschen, die konsequent Verzicht üben wollen, häufig in Orte, die weniger materialistisch geprägt sind. Aus psychologischer Sicht bleibt jedoch zu betonen, dass, wenn man schon an Konsumgütern interessiert ist, eine Sammlung vielerlei positive Aspekte hat, die die Lebenszufriedenheit eher erhöhen dürften, statt sie zu mindern. Sammeln inspiriert, motiviert uns, Neues zu erfahren und hilft, Kontakte zu knüpfen. Nicht zuletzt können Sammlungen auch wiederum nur ein Mittel sein, um anderen Freude zu bereiten oder sie am eigenen Leben teilhaben zu lassen. Sammlungen ermöglichen damit etwas zu haben, um zu sein.
Prof. Dr. Jens Förster ist Diplom-Psychologe, Wissenschaftler, Therapeut, Coach und Unternehmensberater. Er war von 2001 bis 2007 Professor an der Jacobs University Bremen, von 2007 bis 2014 Professor an der Universität von Amsterdam und vertrat von Juli 2014 bis September 2017 den Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität-Bochum. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Herbst erscheint sein neues Buch »Warum wir tun, was wir tun« im Droemer Verlag. Zurzeit arbeitet er an einem neuen Band über die Lebensstationen von Erich Fromm. Zudem ist er als Sänger und Schauspieler aktiv und betreibt eine Praxis in Köln.