TEXT: ANDREAS WILINK
Was für ein Anspruch? Hybrid oder, ganz im Gegenteil, maßlos bescheiden? Ein Kaleidoskop aus zehn Ländern addiert sich zu Ansichten vom »Abendland« (Regie Nikolaus Geyrhalter). Gesammelt in subjektiven Momentaufnahmen, sind sie doch mehr als Zufall und beliebig in der Auswahl. Das Unvereinbare in der Gleichzeitigkeit der Montage schafft erhellende und beklemmende Effekte. Und wird dem Titel der Duisburger Jubiläums-Filmwoche gerecht: »Stoffe«. Oder eben Kontrast-Stoffe.
Eine Grenzpatrouille am Rand der Slowakei, ein italienisches Flüchtlingslager, das die Räumung der Gestrandeten veranlasst, Szenen aus Krankenhäusern, eine Demo im Wendland, Telefonseelsorge in Holland, eine Porno-Sex-Produktion, Videoüberwachung eines britischen Kontrollzentrums, ein Ausschuss im EU-Parlament, das Oktoberfest, wo Menschen Dampf ablassen, der Papst in Rom, ein Krematorium in Wien – und in all den Splittern eine Welt, die unsere ist und uns doch vielfach, außerhalb der Nachrichten, unbekannt.
In Korrespondenz zum alten Europa tritt, noch mehr Länge und Breite ausmessend, »American Passages«. Das Glück ist von kurzer Dauer: Obamas Wahl zum Präsidenten lässt Harlem jubeln, als würde jetzt erst Martin Luther Kings Erbe der Freiheit wahr oder das der US-Verfassung, deren Inkrafttreten in einem Museum mit den Bronzestatuen der 42 Unterzeichner und anderswo mit einem Darsteller Benjamin Franklins nachgestellt werden. Auf ihrer Reise durch elf Bundesstaaten kehrt Ruth Beckermann die Reste des amerikanischen Traums zusammen. Vögel am grauen New Yorker Himmel, Highways, Straßenszenen, Diners, Märkte, Gottesdienste, eine Drogen-Reha. Aber es geht nicht um die Orte des Ortlosen, sondern um deren Bewohner: gut situierte WASPs, Hispanics, Juden, die schwarze Society, aufgefächert von Sklaven-Erinnerungen bis zum Richteramt. Jemand erzählt, dass man als indianischer Nachfahre Abstammungs- und Stammeslisten zu führen habe, um etwa im Krankenhaus seine Blut-Identität nachzuweisen; wir sehen Ghettos sogenannter Wohlfahrtssiedlungen und Leute, die auch noch die letzten untergestellten Überbleibsel ihres Hausstandes für eine Handvoll Dollar verkaufen; Christen geraten in religiösen Taumel; zwei Schwule erzählen von ihrer Adoptiv-Elternschaft; ein Irak-Veteran berichtet von seiner Psychose – und fast überall der unzerstörbar patriotische Stolz und materialistische Impuls. Die Fragmente ergeben ein komplettes Bild: Der pursuit of happiness scheint still zu stehen.
Die Gegenbewegung vollzieht der Schweizer Thomas Imbach. Er bleibt, wo er ist: in seinem Atelier, während draußen Leben stattfindet oder zu ihm eindringt. Mit der Kamera schaut er hinaus auf Zürich, auf einen rauchenden Schlot, fahrende Züge, Fabrikgelände, die ziehenden Wolken am Himmel, und auf Schneegestöber folgt Sommer. Zeit läuft ab. Wenn man so will, ist »Day is done« Variation zu Hitchcocks »Fenster zum Hof« ohne aktiven Helden, kombiniert mit Brian de Palmas Thriller »Blow Out« über einen Geräuschemacher. Denn nicht nur das künstliche Auge der Kamera geht auf Blickfang, sondern das Mikrofon hört mit. Der Filmemacher belauscht Stimmen auf dem Anrufbeantworter, die ihn zu erreichen suchen; neben Grüßen, Glückwünschen, marginalen Mitteilungen bescheidet etwa eine Dame vom ZDF-Kleinen Fernsehspiel sein eingereichtes Projekt abschlägig. Private Schicksals-Botschaften laufen auf, auch über den Tod des Vaters, auch über die Geburt seines Sohnes. After the Beep – das Schweigen der Bilder.
So fügen sich eindreiviertel Stunden zur teils eigenen, teils angeeigneten, teils imaginären Autobiografie, die das Scheitern nicht unterschlägt. Imbach, der manchmal als Schatten auftaucht, aber (auch emotional) außen vor bleibt, verbirgt und enthüllt sein Selbstporträt hinter den voyeuristisch erhaschten Lebensspuren, speichert schlimme und schöne Bilder und Worte. Augenblicke im Zeitraffer. Die Veränderungen der Stadt zwischen 1995 und 2010 werden über die von 1988 bis 2003 montierte Tonspur und den Soundtrack u.a. mit Bob Dylan-Songs zur Spiegelung inneren Befindens und registrieren Verschiebungen unserer Sicht auf Imbach und in seiner Selbstwahrnehmung.
Kein schöner’ Land als dieser See in der Uckermark – und dann diese harschen Sätze: »Ich hab’ kein Gewissen und keine Moral, jedenfalls nicht Eure«. Ein Mann, Paul Gratzig, rudert übers Wasser, verliert die Fassung, herrscht seine Regisseurin Annekatrin Hendel an, die ihn als »Vaterlandsverräter« porträtiert. »Verflucht noch mal, warum lass ich mich bloß so hinreißen. Und das mir!« Die Suada geht weiter, voller Wut und Hass auf »die Kapitalisten, die Ackermanns, dieses Saupack bei Thyssen, bei IG Farben… Wenn’s helfen würde, würde ich eine Handgranate nehmen…«.
Eine deutsche Geschichte. Biografische Koordinaten: vertrieben aus Ostpreußen, Knecht, Tischler, Geliebter von Steffi Spira, gefördert von Anna Seghers, in der DDR Arbeiter-Schriftsteller (»Malwa«, »Kohlenkutte«), in Kontakt zur Künstler-Prominenz Besson, Karusseit, Marquardt, Heiner Müller etc., Anfang der Sechziger von der Staatssicherheit angeworben und als konspirativer Oppositioneller aufgebaut und eingeschleust: Deckname Peter. Gratzig, in seiner Jugend zigeunerhaft fesch, jetzt ein knorriger Kerl wie Becketts Krapp, blockt ab, will sein Ausspionieren in den größeren historischen Zusammenhang eingeordnet wissen: »Lass die Toten ruhen«, weicht aus, indem er berichtet, wie Isaak Babel von Stalin ermordet wurde, der ihm einen Nagel in die Stirn treiben ließ.
Er hat 600 Euro Rente, ist krank, isoliert, bitter, findet sich nicht ein in der neuen Republik, will nicht als »schlechter Mensch« dastehen. Er hat seine geschwärzten Erinnerungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, zu denen gehört, dass die Stasi-Firma die wahren Konterrevolutionäre seien. In den Achtzigern outet sich Gratzig selbst. Ein anrührender, kluger, offener, aufrechter Film – und Hauptdarsteller mit eigenem Kopf. Eine Freundin, die Opernsängerin Renate Biskup, meint über ihn, er habe »die Not mitgebracht in die Welt«.
Das gilt auch für ihn: Werner Schroeter. Man muss sich hüten, pathetisch zu werden, wenn man über »Mondo Lux«, Duisburgs Eröffnungsfilm 2011, spricht. Am besten bewahrt einen derjenige davor, dem Elfi Mikeschs biografische Collage gewidmet ist: Schroeter selbst, der im April 2010 in aller Würde und Klarheit an Krebs starb. Zuvor hatte das Filmfestival Venedig ihn noch mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Hoch konzentriert und reflektiert gibt er Auskunft, professionell, übrigens auch pointensicher und in seinem typisch lakonischen Humor.
Mikeschs Nahaufnahme erschließt seine Bilderwelten: in Filmen und Fotografien, im Theater, in der Oper, in Gedanken, Worten und Werken. Schroeter war ein Extremist des Fühlens und Propagandist des Ästhetischen, seit er in den Sechzigern den Neuen Deutschen Film mitbegründete. Mit seinen verwegenen Filmessays hielt er eine Sonderposition. Seine Filme sind alles zugleich: Tragödien, Melodramen, Farcen, surreale Phantasien, katholische Messen und deren erotische Parodie. Ihm sei es mehr um die Geste gegangen als um die Geschichte, sagt Wim Wenders sehr treffend.
Die intime Kamera wagt sich brutal-zärtlich nah an ihren Hauptdarsteller heran, frei von Scham: das scharf geschnittene Profil, die papierdünn gewordene Haut, das fast fleischlose Antlitz. Mikeschs vitales Memento mori beweist einen Radikalismus, den Schroeter nicht nur geduldet, sondern gefordert hätte. In seiner Kunstwelt war alles Gestalt, Absicht, Form, nichts lasch. Man vermisst diesen Anspruch, gelegentlich auch beim Duisburger Jahrgang 2011.
Das Folgende hätte Schroeter interessiert, für den Italien Land der Sehnsucht blieb, vor allem in der Oper des Belcanto, in der Stimme der Maria Malibran und der Callas. Der »Way of Passion« führt nach Trapani auf Sizilien. Am Karfreitag wird in dem Fischerort eine Prozession abgehalten. Es sieht aus, als hätte Sergio Leone die Regie übernommen bei diesem Ritual aus volksfrommer Regung, munterer Feria, heidnischem Kult, Oberammergau-Rummel und sportlicher Tortur der Lastenträger, die die mannshohen, mit Kerzen und Blumen geschmückten Heiligenszenen stemmen. Das Lamm Gottes trägt die Sünden der Welt.
Noch fernere Rituale dokumentiert Thomas Heises »Sonnensystem«. Der exzellente Chronist und Experte (ost-)deutscher Realität in Arbeiten wie »Stau« und »Kinder. Wie die Zeit vergeht« sucht das Weite. Im Auftrag des Goethe-Instituts Buenos Aires schildert er den Alltag einer indigenen Gemeinde, der Kolla von Tinkanaku, im Nordwesten Argentiniens. Sie leben, durch ein Bergmassiv wie von der Zeit versiegelt, ursprünglich. Heise beobachtet – nichts weiter. Sprache bleibt als Verständigungsmittel ausgespart, wir schauen Tätigkeiten zu: Ziegel brennen, schlachten, ein Fest feiern, handwerkliches Fertigen, bis zum Schluss das Volk aus dem Gelobten Land in die Slums der Metropole zieht, wo der Kontrast zwischen ihrer Zivilisation und der Moderne demonstrativ krass deutlich wird.
Die 35. Filmwoche bietet: move on und Ruhe in der Bewegung, das Meditieren über die eigene Lebensform und die Suche nach dem Fremden, ob in den »Farben einer langen Nacht« in Grönland (Judith Zdesar) oder in der akuten Hektik des ägyptischen Volksaufstands auf dem Tahrir-Platz (Juliane Henrich), am Wege aufgelesene Tatsachen, persönliche Bilanzen und die totale Ästhetik eines Kunstlebenss
35. Duisburger Filmwoche »Stoffe«, 7. bis 13. November 2011. Filmforum am Dellplatz . www.duisburger-filmwoche.de