Welche Lehren sollten Architekten aus den Folgen der Corona-Pandemie ziehen? »Interessant ist beispielsweise die neue Bedeutung von Balkonen für das Zusammensein auf Distanz«, schrieb der Schweizer Architektur-Journalist Manuel Pestalozzi kürzlich im Online-Magazin baunetz.de. »Sowohl aus Wuhan wie auch aus Italien erreichen uns Berichte von Menschen, die sich von Balkonen als Logen des öffentlichen Raumes Mut zurufen und miteinander Lieder singen. Müssen Balkone fortan so geplant und angeordnet werden, dass sie diese Funktion optimal erfüllen können?«
Die Bedeutung des Balkons als Freizeitort und Gartenersatz im verdichteten, städtischen Kontext kam erst Mitte des 20. Jahrhunderts auf. In der dörflichen Architektur war er lange Zeit einfach als überdachter Lagerraum im Freien gedacht. Im Stadtraum des 19. Jahrhunderts galten Balkone zur Straßenseite hin vor allem als Dekoration. Auf der Hausrückseite waren sie der Küche zugeordnet und für das Trocknen von Wäsche oder Tätigkeiten vorgesehen, die starke Gerüche verursachen.
Pestalozzis Vorschlag, Balkone so anzuordnen, dass sie die Möglichkeit zu Kommunikation auf Distanz bieten, ist auch heute nicht unproblematisch. Die meisten Menschen sehen ihren Balkon doch eher als halböffentlichen Raum, der nicht allzu einsehbar sein sollte. Eine Tatsache, die Architekt*innen allzu oft nicht wahrhaben wollen, wenn sie auch bei der Balkonbrüstung ihrem Drang zu Transparenz und Leichtigkeit folgen. Brüstungen aus Glas oder filigrane Geländer sind die Folge. Wer sich auf dem Balkon sonnt, möchte allerdings vielleicht nicht gerade die perfekte Aussicht auf die eigene Bade- oder Bikinihose bieten. Architekt*innen sind dann schnell beleidigt, wenn ihre schicken Brüstungen – und nicht zuletzt der Gesamteindruck des Gebäudes – durch allerlei Sichtschutze aus Bambus, Folie oder bunten Markisenstoffen verschandelt werden.
Beispielhaft: Mietwohnungsbau in Wulfen-Barkenberg
Wie Balkone im Mietwohnungsbau gehen, lässt sich in Wulfen-Barkenberg, das heute zu Dorsten gehört, begutachten. Die Planstadt am Nordrand des Ruhrgebiets war in den 1960er und 1970er Jahren entstanden. In der konsequenten Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr, der weitgehend ampelfreien Verkehrsplanung und zahlreichen revolutionären Ansätzen im Wohnungsbau ist sie bis heute zukunftweisend. Fritz Eggeling, der auch für die Stadtplanung zuständig war, entwarf mit Hans Stumpfl und Peter Broich den bis zu acht Stockwerken hohen, mit Naturschiefer verkleideten Wohnkomplex an der »Himmelspforte«. Die Wohnungen sind mit Loggien ausgestattet, die schräg aus der Fassade auskragen und konsequent auf die Nachmittagssonne hin ausgerichtet sind – das perfekte Verhältnis aus Verschattung und Licht. Die schräg vorspringenden Balkonreihen rhythmisieren zudem die Fassade des Komplexes ohne die selbstbewusste Großform zu verschleiern.
»île«-Quartier in Düsseldorf-Pempelfort
Das Quartier »île« in Düsseldorf-Pempelfort von Götzen Architekten geht hingegen einen anderen Weg. Bewusst wurden hier keine Großformen gesetzt, sondern Parzellen mit schmalen Fassaden geschaffen – typisch für die innerstädtische Bebauung in Düsseldorf. So fügt sich der Komplex zwar perfekt in die Umgebung ein, in der sich Nachkriegsarchitektur mit einzelnen Relikten des frühen 20. Jahrhunderts mischt. Bei der Suche nach architektonischer Abwechslung schießen die Architekten dann allerdings deutlich über das Ziel hinaus. Eine Fassade mit historisierendem Giebel und Säulenportal – das ist nichts anderes als blanker Kitsch. Hanebüchener Unsinn sind zudem einige aus dem Ruder gelaufene französische Balkone. Auf Türbreite kragen sie anderthalb Meter aus der Fassade aus. Einen Wäscheständer würde man darauf zwar unterkriegen, nur das Auf- und Abhängen wäre dann schwierig. Zu Zweit Kaffee trinken? Geht gerade so, wenn sich der erste ans Ende setzt, bevor man den Tisch und einen zweiten Stuhl aufstellt – nur darf dann niemand zwischendurch auf die Toilette müssen.