TEXT: STEFANIE STADEL
Dichter Verkehr und reichlich Baustellen. Schaufenster, Hochhäuser, eine Zigarettenreklame. Das Bild vom Papst und Nummernschilder in Nahaufnahme. Zwischendurch treten die Künstlerkumpels Gerhard Richter und Sigmar Polke ins Bild. Eigentlich hatte seine Ehefrau ihm die Kamera für Familienfilme geschenkt, Manfred Kuttner aber nutzte sie lieber für jenes furiose, flimmernde, flackernde, kaum fassbare Stadtporträt: Düsseldorf 1963, im Wirtschaftswunderrausch.
Über Jahrzehnte hatte man das bemerkenswerte Experiment fast vergessen, jetzt kommt es gleich doppelt zu Ehren: In der Kunsthalle Düsseldorf läuft der Film namens »A–Z« als Inkunabel des »Kapitalistischen Realismus«, und die Langen Foundation in Neuss präsentiert das Dreieinhalb-Minuten-Werk, weil es eine wesentliche Arbeit Kuttners ist.
Es trifft sich gut, dass beide Häuser in diesen Wochen gemeinsam – wenn auch von unterschiedlichen Seiten – Blicke auf Phänomene der Düsseldorfer Kunstszene in den frühen 60ern werfen: Während Neuss, erstmals überhaupt im Rheinland, mit Kuttners Kunst bekannt macht, nimmt die Kunsthalle Düsseldorf sich in aller dokumentarischen Gründlichkeit des Phänomens »Kapitalistischer Realismus« an – oder besser jener Vierer-Clique, die sich vor ziemlich genau 50 Jahren aufmachte, ihr Künstlerglück selbst in die Hand zu nehmen. Über eines waren sich Kuttner und die anderen dabei völlig einig: Die Kunstproduktion der Zeitgenossen tauge nichts. Richter, der sich damals noch Gerd nannte, brachte es auf den Punkt: »Alles Quatsch um uns herum.«
Die Kunstwelt sah das offenbar anders – noch. Keiner wollte die Werke der vier ausstellen, geschweige denn kaufen. Darum machten sich Richter, Kuttner, Polke und Lueg im Frühjahr 1963 selbst auf die Suche nach passenden Ausstellungsräumen. An Bord eines alten Peugeot kurvten die Studenten durch Düsseldorf und fanden schließlich in der Kaiserstraße 31A, was sie suchten: Die ehemalige Metzgerei stand kurz vor dem Abriss und war billig zu mieten.
DIE GEBURT DES KAPITALISTISCHEN REALISMUS
Zwischen eilig gekalkten Wänden und mit reichlich Schaumwein in den Gläsern wurde am 11. Mai Eröffnung gefeiert. Ein Ereignis, das Kunstgeschichte geschrieben hat. Nicht zuletzt, weil Richter & Co. dabei erstmals das selbst erfundene Label »Kapitalistischer Realismus« für die eigene Kunst in Umlauf brachten. Im Hinterkopf hatten sie dabei sicher die ironische Abgrenzung vom »Sozialistischen Realismus« des Ostblocks. Daneben waren Einflüsse der Fluxus-Bewegung wichtig und ganz bestimmt auch Verbindungen zur britischen wie amerikanischen Pop Art.
Aufmerksamkeit verdient dieses Ereignis aber auch, weil hier vier Newcomer ihren Einstand gaben, von denen sich in der Folge zumindest drei als Superstars auf dem internationalen Kunstparkett platzierten. Polke und Richter als Großkünstler und Lueg, unter seinem wahren Namen Konrad Fischer, als führender Avantgarde-Galerist.
Die Kunsthalle Düsseldorf lässt das denkwürdige Metzgerei-Debüt nun in Bildern, Briefen, Dokumenten noch einmal lebendig werden. Nicht zuletzt wohl dank Richters wirkungsvoller Öffentlichkeitsarbeit konnte das Quartett am Eröffnungsabend Joseph Beuys und Günther Uecker begrüßen. Außerdem gehörten Heinz Mack und Gotthard Graubner zu den Zeugen der damals sicher gewöhnungsbedürftigen Darbietung, die schon im Schaufenster klar machte, worum es ihr ging.
Kuttner hatte dort einen neon-pink gestrichenen Stuhl platziert mit dem provokanten Namen: »Der Heilige Stuhl«. Darauf postierte Lueg ein OMO-Waschmittelpaket, das er durch eine gewitzte Buchstaben-Drehung als OWO-Packung ausgab. Neben Kuttners Stuhl hingen kopfüber zwei Puppen, von Richter in einen Rahmen gefasst. Polke schließlich ließ vom Fenstersturz an einer Schnur ein Bündel bunter Illustrierter herabbaumeln – »Massenmedien«, so der Titel.
Der legendären Schau folgten noch ein paar ähnlich originelle Aktionen, die sich jetzt in der Düsseldorfer Kunsthalle ebenfalls akribisch aufgearbeitet und mit zum Teil wandfüllenden Fotos vergegenwärtigt finden: Der Auftritt im verschneiten Garten des Wuppertaler Avantgarde-Galeristen Rolf Jährling etwa oder das unter dem Titel »Leben mit Pop« berühmt gewordene Happening im Möbelgeschäft. Richter und Lueg präsentierten sich dort selbst als lebende Kunstwerke auf der Couch vor dem Fernseh-Apparat und führten das Publikum anschließend durch den Laden, wo sie überall eigene Kunstwerke zwischen die Möbel geschmuggelt hatten.
KUNST, WARE ODER REPRODUKTION?
Kunst oder Ware oder beides? Das war die Frage, die hier hintergründig unters Volk gebracht wurde. Und es ist schon erstaunlich, wie aktuell sie noch immer ist. Beinahe aberwitzig scheint dabei, dass die Requisiten jener ironischen Spielerei auf dem Kunstmarkt heute Millionen bringen dürften.
Die enormen Preise – und damit auch Versicherungssummen – für Richters und Polkes Arbeiten dürften auch ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die Düsseldorfer Ausstellung in ihrer »Reproduktion des Kapitalistischen Realismus« auf originale Kunstwerke verzichtet, stattdessen um die 50 Reproduktionen auffährt. Was den ohnehin eher trockenen, stark wissenschaftlich-dokumentarischen Grundton der Schau noch verstärkt.
Wer jedoch Originale sehen will, muss nicht weit fahren – nach Neuss, wo die Langen Foundation das Schaffen des 2007 verstorbenen Kuttner überblickt. Während die anderen Karriere machten, hatte er sich bald nach dem hoffnungsvollen Start 1963 zurückgezogen und als Familienvater mit Mitte zwanzig bereits die sicherere Zukunft des Werbegrafikers gewählt. Sein künstlerisches Vermächtnis landete damals im Keller.
Erst in jüngerer Zeit kommen Kuttners grelle Bilder und Objekte wieder ans Tageslicht. Zuerst 2005 in der Berliner Galerie Johann König, wo ihre Frische auch jüngere Kollegen verblüffen konnte. Es ist natürlich kein großes, kein reiches Werk, das er hinterlassen hat. Aber eines, das trotz der langen Zeit im Untergrund nicht eingestaubt wirkt. Dies zeigt sich nun auch in Neuss, wo das schmale, im Laufe weniger Jahre entstandene Œuvre beinahe komplett versammelt ist.
KUTTNERS LEUCHTFARBE
Kuttners informelle Anfänge in der Klasse von Gerhard Hoehme an der Düsseldorfer Akademie ebenso wie die vielen flirrenden Muster in fluoreszierenden Farben – entstanden 1962 und 1963 nach Kuttners Wechsel zu K.O. Goetz, wo er gemeinsam mit Polke, Richter und Lueg das Studium fortsetzte.
Wie kam er auf die Leuchtfarbe? »Zufall. Faszination«, so gab der Künstler selbst zu Protokoll. »Weil sie so intensiv ist. Fluoreszierende Leuchtfarbe neben normalem Rot – dann empfindet man dieses als schmutziges Braun. Dresdner Schinken haben mich abgestoßen …« Die 1962 neu auf den Markt gebrachten Plaka-Tagesleuchtfarben werden zum Markenzeichen des Künstlers. Er malt reihenweise verzerrte Muster, gestapelt, vergittert oder wirbelnd, Linien und Formen, die vor unseren Augen in Bewegung geraten.
Man denkt an die irritierenden Effekte der Op Art – zumindest, wenn man aus der Ferne auf die abstrakten Flimmer-Muster schaut. Doch bei näherem Hinsehen fallen sehr schnell wesentliche Unterschiede zu den präzisen Formulierungen dieser Stilströmung ins Auge: Kuttner geht viel malerischer an die Sache heran als die haarscharf arbeitenden Kollegen. Überall entdeckt man Farben, die in Tropfen die Leinwand hinunterlaufen, auch Pinselstriche werden ab-lesbar und offenbar gezielte Ungenauigkeiten, mit denen Kuttner die Symmetrie stört.
Eng verwandt mit diesen Bildern sind seine Objekte: Der Künstler greift nach alltäglichen Gegenständen – ein Sprungrahmen, ein Fahrradsattel, das Innenleben einer Schreibmaschine – und streicht sie in den bekannten Leuchtfarben an. In der Langen Foundation zu sehen ist auch jener neon-pinke Stuhl, der 1963 beim ersten Auftritt der vier Kunstkumpane das Metzgerei-Schaufenster schmückte.
SIE BOOTETEN KUTTNER AUS
Warum scherte Kuttner aus? Was veranlasste ihn zum Rückzug aus der Gruppe? Neben seiner jungen Familie und wirtschaftlichen Überlegungen dürfte wohl auch seine vermeintliche Außenseiterposition eine Rolle gespielt haben. Kuttners Malerei habe nicht mehr zur Arbeit der anderen gepasst, stellte Richter rückblickend fest. Deshalb hätten sie ihn »ausgebootet«.
Eine Feststellung, der man nach dem Besuch in Neuss und Düsseldorfs nur bedingt zustimmen möchte. Denn es gibt durchaus Verbindendes. Wie die drei einstigen Mitstreiter macht auch Kuttner den zeitgenössischen Alltag zum Gegenstand seiner Kunst. Nicht in der gewiss leichter erkennbaren Form von »Massenmedien« oder Waschmittelkartons. Sondern durch das Material: industriell gefertigte Knallfarben, die sich hervorragend in die Welt der Werbung fügen würden. Ebenso durch Muster, die mit ihren Flimmereffekten dem ruhelosen Takt des »modernen Lebens« Ausdruck verleihen. Und vor allem durch sein filmisches Experiment mit der Familienkamera, jener hektischen Hetze durch die Wirtschaftswunder-Stadt. Nirgends wohl kommt der Geist des »Kapitalistischen Realismus« klarer zum Ausdruck. Mit allem was dazugehört – von »A – Z«.
Bis 29. September 2013. Kunsthalle Düsseldorf. Tel.: 0211/8996240. www.kunsthalle-duesseldorf.de
Bis 6. Oktober 2013. Langen Foundation, Neuss. Tel.: 02182/570115. www.langenfoundation.de