TEXT: GUIDO FISCHER
2012 ließ das Brüsseler Opern-Publikum das Traditionshaus La Monnaie in seiner Begeisterung erbeben. Gefeiert wurde weniger die Neuinszenierung von Georg Friedrich Händels 1733 uraufgeführtem »Orlando«, als vielmehr das Musikerteam. Im Orchestergraben hatte der Händel-Spezialist René Jacobs das noch junge, aber sagenhaft schnittige belgische B’Rock Orchestra auf Hochtouren gebracht. Die Titelrolle des vor Eifersucht rasenden Ritters Roland war von Bejun Mehta zweieinhalb Stunden lang in höchste Spannung gesetzt worden; dabei fern von vokalem Oberflächenglanz und moussierendem Koloraturenspektakel, mit dem die männlichen Hochtöner gern prunken. Wie seine Stimmfach-Kollegen Andreas Scholl und David Hansen gehört Mehta zu jener exklusiven wie exquisiten Runde von Countertenören, die sich für die Abgründe ihrer Partien interessieren und nicht für den schönen Schein.
Gerade dieser »Orlando« bietet da reichlich Möglichkeiten, Qualitäten als Stimmschauspieler unter Beweis zu stellen. Überhaupt gehören der Opernkomponist Händel und speziell dieses Werk zu den treuesten Gefährten des Amerikaners. 1998 gab Mehta sein Debüt an der New Yorker City Opera in Händels »Partenope«. 2003 präsentierte er sich am Londoner Royal Opera House erstmals als »Orlando« und wurde für den Laurence Olivier Award nominiert. Jüngst ist bei der Deutschen Grammophon auf CD die Brüsseler Produktion erschienen, die jetzt konzertant in Köln zu erleben ist.
Mit René Jacobs verbindet Bejun Mehta eine fruchtbare und erfolgreiche Künstlerfreundschaft. Kennengelernt hatten sie sich 2008 in Toulouse bei einer szenischen Fassung von Händels Oratorium »Belshazzar«. Mit einem von Jacobs dirigierten Händel-Arien-Album schaffte Mehta 2011 diskografisch den internationalen Durchbruch.
Mit 43 Jahren war der um zwei Ecken mit dem berühmten Dirigenten Zubin Mehta verwandte Sänger bereits in einem Alter, in dem sich für andere schon langsam das Karriereende abzeichnet. Aber Mehtas Weg an die Spitze verlief anders und bot keinen Mainstream. Der 15-Jährige hatte zwar als Knabensopran auf sich aufmerksam gemacht und sogar ein Album mit Liedern und Arien von Händel, Schubert und Brahms eingespielt, dem Leonard Bernstein seinen Segen spendete: »Der Reichtum und die Reife dieses Jungen ist unglaublich«, urteilte er über das von ihm geförderte Talent.
Doch tatsächlich folgte darauf eine sängerische Durststrecke von 14 Jahren. Nach dem Stimmbruch rutschte Mehta ins Baritonfach. Mit mäßigem Erfolg. Weshalb der Germanist, der in Yale seine Examenarbeit über Heinrich Heine schrieb, sogar mit der akademischen Laufbahn liebäugelte. Nur dank eines Zufalls kam es anders. Nachdem Mehta einen Artikel über den Countertenor David Daniels gelesen hatte, versuchte er sich aus Jux in der Sopranlage – zur eigenen Überraschung funktionierte es. Nach einem Jahr Unterricht, in dem ihn auch die legendäre Mezzosopranistin Marilyn Horne beriet, bekam Mehta erste Engagements. Bald wurde Europa auf das Stimmwunder aufmerksam. Heute lebt der 45-Jährige in Berlin, im Szeneviertel Prenzlauer Berg, und bereitet eine zweite Karriere vor. Vielleicht tritt er als Dirigent die Nachfolge von René Jacobs, der ebenfalls einmal ein großer Countertenor war.
G.F. Händels »Orlando« mit Bejun Mehta, Lenneke Ruiten, Konstantin Wolff, B’Rock Orchestra, René Jacobs: 16. Juni 2014, Philharmonie Köln; www.koelner-philharmonie.de