Diese Biografie relativiert vieles, was bisher über Gudrun Ensslin geschrieben wurde. »Poesie und Gewalt« zeigt fernab vom Klischee des eiskalten, fanatischen Racheengels das differenzierte Bild einer Frau, die Literatur liebt, romantischen Vorstellungen anhängt und den langen Weg vom Idealismus zur Radikalität einschlägt.
k.west: Frau Gleichauf, warum interessiert die Person Gudrun Ensslin uns noch?
Gleichauf: Das ist nicht so ganz schnell zu beantworten. Warum sollte man das an einer bestimmten Zeit festmachen? Gudrun Ensslin ist eine Figur, die derartig holzschnittartig verstanden wurde, dass es höchste Zeit ist, sich mit ihr intensiv und aus verschiedenen Perspektiven zu beschäftigen. Wir leben in einer Zeit, die dazu neigt, Fragen schnell zu beantworten. Auch Personen mal schnell zu charakterisieren, auch, sie fertig zu machen.
k.west: Bedeutet das, dass die RAF-Geschichte gar nicht vorrangig in Ihrem Interesse war?
Gleichauf: Vordergründig war es wirklich nicht die RAF, sondern die Person, die aber unabhängig von der RAF gar nicht denkbar ist. Was mich aber besonders interessiert hat, ist dieser extreme Lebensweg und welche Fragen Ensslin als Jugendliche hatte. Das schließt an das Heute an, da ich den Eindruck habe, dass Jugendliche sich schwer damit tun, Ideale zu haben und Zukunftsperspektiven zu entwerfen, die nichts mit dem direkten Erwerbsalltag zu tun haben. Da ist Ensslin für mich ein Beispiel, indem sie diese Unsicherheit bewusst auf sich nahm, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sie so stark bewegt haben, dass sie gar nicht anders konnte, als sich irgendwie zu engagieren – ganz unabhängig davon, wohin der Weg dann geführt hat.
k.west: Ist dieser Weg exemplarisch für die Radikalisierung?
Gleichauf: Das glaube ich nicht. Es war ein sehr individueller Weg, weil alle Faktoren, die von Jugend an für sie eine Rolle gespielt haben, auch im Folgenden relevant geblieben sind.
k.west: Wie sehr ist Ihre Perspektive auf Ensslin feministisch geprägt?Gleichauf: In der Welt wurde ich als »bildungsbürgerliche Feministin« niedergemacht. Ich selbst habe mich nie als Feministin betrachtet, als Bildungsbürgerin auch nicht. Aber natürlich ist es ein weiblicher Blick. Ich habe im Laufe des Schreibens immer mehr den Eindruck gewonnen, mehr mit ihr zu tun zu haben, als ich zunächst gedacht hätte.
k.west: Würden Sie sagen, dass das »holzschnittartige« Bild der Gudrun Ensslin daher kommt, dass bisher nur Männer über sie geschrieben haben?
Gleichauf: Auf jeden Fall, es sind aber auch ganz spezielle Männer. Es sind die Spezialisten-Männer, die für sich die Deutungshoheit beanspruchen.
k.west: Hat sich Ihre Haltung zu Gudrun Ensslin während der Recherche verändert?
Gleichauf: Ich hätte zunächst nicht sagen können, ob sie mir sympathisch oder unsympathisch ist. Es war zunächst nur das Phänomen, dass da eine Schattengestalt herumgeistert, die ein Etikett trägt und nicht selbst spricht. Im Laufe der Arbeit habe ich festgestellt, dass man durchaus mit ihr sprechen kann – und dass sie Antwort gibt. Dieses Gespräch war hochspannend, auch wenn es mich nicht sicherer gemacht hat. Ich kann sie auch heute nicht beurteilen, aber sie wurde zu einem Menschen mit individuellem Gesicht.
Ingeborg Gleichauf, »Poesie und Gewalt – Das Leben der Gudrun Ensslin«, Klett-Cotta, Stuttgart, 350 S., 22 Euro.
Lesung: 22. März 2o17, Buchhandlung Proust – Wörter + Töne, Essen.