Angefangen hat es damit, dass Grover dem Häuptling die Federhaube vom Kopf schießt und den »mindestens 500 000 Indios« befiehlt, in den Wald zurück zu reiten. Die Krieger machen sich dann auch tatsächlich aus dem Staub. Schließlich tritt ihnen ein neunjähriger Abenteurer entgegen, der sich seine Kleider aus Fellen von Hirsch und Bären zusammennäht und Wildziegen über dem Feuer brät. Mit Speer, Schild, Schwert, Messer und Lasso hat Grover auch die notwendigen Instrumente dabei, um jeden Angreifer in die Flucht zu schlagen. All das wird auf eng beschriebenen Seiten in krakeliger Kinderschrift ausgeklügelt. Der Verfasser muss ganz offensichtlich noch in einem Alter gewesen sein, in dem Schulkinder nicht allzu sehr mit Zeichensetzungsregeln gegängelt werden. Niedergeschrieben wurde die »Grover und Roy« betitelte Geschichte am 26.5.1969. Da war Andreas Mand, der 1959 in Duisburg geborene Erfinder Grovers, neun Jahre alt. Wie sein Held, dessen Namen er einem Sammelalbum entnimmt, wobei sich ein »r« zu viel einschleicht. Aus einem australischen Räuber namens Gover wird so der junge Grover, der mit seinem Hund Ajax in einem Wald wohnt, »in dem es viele Schluchten gab«.
Dieses »Debüt« wird Andreas Mand 21 Jahre später als Anhang von »Grovers Erfindung « abdrucken lassen, einem der origi- nellsten Bücher über Kindheit und Jugend, die in der deutschen Nachkriegsliteratur zu finden sind. Darin verfolgt ein ebenfalls junger Ich-Erzähler namens Andreas ein ganz anderes Programm als der drei Jahre jüngere Grover. Mit Detailversessenheit entfaltet er ein kleines, originalgetreu anmutendes Miniatur-Universum der 70er Jahre. Kein zusammenphantasiertes Indianerspiel also, in dem jugendliche Superhelden mit einem Schlag gleich fünf Angreifer niederstrecken. Stattdessen werden Anekdoten und Beobachtungen notiert, die niemals aus dem Gesichtskreis des zwölfjährigen Pastorensohnes heraustreten. Ganz bewusst ist dessen Sprache von Redewendungen und Erwartungshaltungen der Erwachsenen durchsetzt, so dass das Kind komisch altklug wirkt. Andreas berichtet von der Schule, von Rezepten fürs »Gutwerden«, dass »man am besten ist, wenn man der beste ist«. Oder von seiner Familie, vom Beten vor dem Essen (»Beim Beten muß man feste die Augen zumachen, sonst wirkt es nicht«), vom Versuch, im Sandkasten »eine Wildnis zu züchten«, von Geburtstagen und Weihnachten, Splittern im Finger und dem Fotografiert-Werden. Und Andreas erzählt von Grovers Erfindung: einer Kamera, so klein, dass man sie praktisch nicht sieht. Direkt ans Auge montiert, ließe sich so ein ganzes Leben filmen. »Ich würde natürlich niemandem verraten, wie die Kamera funktioniert. Im Gegenteil, ich würde alles so machen, dass sie es gar nicht merken. Daß sie denken, alles ist echt.«
Mit »Grovers Erfindung« ist Andreas Mand 2002 auf auch für ihn überraschende Weise in die jüngere Literaturgeschichtsschreibung eingegangen. Moritz Baßler hat den Roman in seiner noch immer amtlichen Darstellung der jüngeren deutschen Pop-Literatur zum Modell für jenes alltagsarchivarische Schreiben nobilitiert, das so unterschiedliche Figuren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Thomas Meinecke oder Christian Kracht auszeichnen soll. »Er hat mich gerettet«, sagt Andreas Mand heute. Anders nämlich als die meisten Archivisten ist er bis heute ein Geheimtipp geblieben, bisweilen geradezu euphorisch rezensiert, aber weit davon entfernt, in den Bestsellerauslagen anzukommen. Die meisten seiner Bücher sind vergriffen. Geheimtipps verkaufen sich einfach nicht so gut. Selbst wenn es Romane sind, von denen Leser sehr leicht denken könnten, dass »alles echt« ist.
Andreas Mand wird gern als einer jener unzähligen Sprecher der Ende der 50er Jahre Geborenen bezeichnet. Jener Generation also, die – wie ein kaum älterer Rezensent einmal geschrieben hat – sich zwischen den früh vergreisten 68ern und den Vereinigungsgewinn lern eingeklemmt fühlt. Die, so sollte man wohl auch noch ergänzen, in eine prosperierende und zunehmend liberalere Bundesrepublik hineingewachsen ist und ohne historische Großereignisse hoch politisiert vor sich hin existieren konnte. Angefangen 1982 mit »Haut ab« bis hin zu dem in diesem Jahr erschienenen »Paul und die Beatmaschine «, hat Mand sein alter ego Paul Schade bislang über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren verfolgt. Vom Ende der Schulzeit in die 80er Jahre hinein, seinen Weg in die Hausbesetzerszene, die großen Lieben und kleinen Kompromisse, um ihn endlich kurz nach der Jahrtausendwende in »Vaterkind« mit dem Tod des Vaters und der Geburt des ersten Kindes zu konfrontieren. So ist ein über mehrere Verlage verstreuter Zyklus über einen äußerst selbstdistanzierten Helden entstanden. Ein ewiger Nörgler, »der die Bildungsbürgerreste mit verzerrten Gitarren unterlegte« und als mäßig beteiligter Außenseiter einen erbarmungslosen Blick auf linksaktivistische Großschwätzer, verkleinbürgerlichte Systemveränderer und zuletzt auch auf die Stipendiums-Künstler wirft, bei denen schon längst nicht mehr klar ist, ob die Eigenwerbung Mittel oder Zweck ihrer Kunst ist.
Einige der Romane annoncieren sich, je nachdem, welche Ausgabe man in den Händen hält, als »Die Paul-Schade-Bänder«. Oder auch als »Paul-Schade-Bände«, weil irgend-jemand im Verlag mit dem ungewöhnlichen Untertitel offensichtlich wenig hat anfangen können und den vermeintlichen Fehler vor dem Druck korrigiert hat. Dahinter stehe aber die Idee eines Archivs, »das mehr mit mündlichem Erzählen als mit den etablierten Literaturformen zu tun hat, und in dem man mit den Tasten Play, Rewind und Fast Forward navigieren kann oder das jedenfalls glaubt.« So ist über die Jahre ein Lebensroman entstanden, der die Vermutung nahe legen könnte, dass es der von Andreas Mand selbst ist. Als hätte er immer »Grovers Erfindung«, diese Mini-Kamera, bei sich getragen. Denn Paul Schade scheint zu sein, wie Grover es sich besser nicht wünschen könnte: echt. Könnte man denken.
Ein wenig überraschend ist hingegen, dass sich Andreas Mand, den man durch die Romane so gut zu kennen meint, sehr reserviert zeigt, wenn es um seine Privatsphäre geht. Während der Leser über weite Strecken doch geradezu das Gefühl hat, dass Mand das eigene Leben geradezu erschütternd rückhaltlos als Material in seine Romane einbringt. Dabei sind es nicht nur diese Eckdaten, die zum Verwechseln von Realität und Fiktion einladen: Schade und Mand studieren in Osnabrück, beide spielen in den 80ern in einer Band, singen deutsche Texte, werden sich später entscheiden, Schriftsteller zu werden. Obwohl der Satz »Ich will Schriftsteller werden « für Mand damals »uncool« klang. In »Paul und die Beatmaschine«, dem Roman, der nach »Vaterkind« noch einmal in die neunziger Jahre zurückgeht, ist Paul Stipendiat auf einem Schloss, so wie Andreas Mand 1992/93 auf Schloss Solitude. Mit dem Begriff »Selbstentblößung« könne er dennoch wenig anfangen, schlägt Mand die Einladung zur identifikatorischen Lektüre aus. Dennoch: »Man kann in der Literatur nicht dauernd im Anzug herumlaufen. Selbstverständlich ist Analyse und auch Selbstanalyse die Aufgabe von Künstlern.«
»Klar geht es auch darum, die Definitionsgewalt über mein eigenes Leben zurückerobern zu wollen. Weil es nämlich vordefiniert und ich damit nicht einverstanden war.« Dennoch ist seine Prosa weit von den autobiographischen Selbstverständigungstexten entfernt, die in Eigenverlagen herausgebracht werden. In Romanen wie »Kleinstadthelden « oder »Das rote Schiff« gibt kein auf Foto: Elke Horstmann historische Dimensionen aufgeblasenes Ich Auskunft über sein Leben im Diaabend-Format. Ganz im Gegenteil erkennt Paul Schade schon sehr früh, dass es ihm nicht gelingt, aus selbst größter Verzweiflung zum Giganten zu werden. Aus dem neunjährigen Helden Grover, der mal eben eine halbe Million kampfbereite Indianer in den Wald zurückkommandiert, wurde Paul Schade, ein »Sohn aus gutem Hause, der nur versuchte, ein bißchen Farbe in seine Biographie zu bringen« und Dinge erlebt, »die andere vielleicht langweilig finden könnten«. So langweilig, wie ihr eigenes Leben ist.
Obwohl die bisherigen Schade-Bücher die Geschichte einer verlängerten Jugend erzählen, ist es doch keine Flucht vor dem Erwachsen- Werden. Ein großes Maß an Pragmatismus ist von Anfang an anwesend in diesen Romanen, auch eine zunehmende Illusionslosigkeit. Vielleicht lässt sich Mands Projekt sogar als Entwicklungsroman bezeichnen. Dabei sollte man sich allerdings vor Ohren führen, dass Bänder für jede Form von Geräuschen empfindlich sind, für Kriterien der Bedeutsamkeit hingegen nicht. Der Grundton aber ist, was Mand selbst als »Anspruch auf ein selbst bestimmtes Leben« bezeichnet. »Das hat mit Erwachsen-Sein oder Nicht-Erwachsen- Sein relativ wenig zu tun.« Womit er sich gegen die Vermutung wehrt, dass da jemand nicht Verantwortung übernehmen will für sich und andere, wie man seiner Generation so gern unterstellt. Lieber verweist er auf eine Passage in »Grovers Erfindung« die »Größer werden aber keiner von den Großen werden« heißt. Darin findet sich kein Plädoyer für das peinliche Kind im Manne. Eher dominiert die Angst vor der Institutionalisierung des Lebens. Vielleicht auch die vor Verbürgerlichung: »Woran liegt das eigentlich, wenn man groß ist. Man kann nicht einfach sagen, jetzt bin ich zwölf, jetzt bin ich groß. ›Manche werden nie erwachsen‹, hat Papa seufzend gesagt. Aha, habe ich logischerweise gedacht, man kann also auch vorher erwachsen sein. Zum Beispiel, wenn man vorzeitig mit der Schule fertig ist und einen Beruf hat. Oder wenn man auf die Idee kommt und heiratet. Wenn man nicht mehr Papa und Mama sagt, sondern Vater und Mutter. Wenn man ein eigenes Haus hat.« Natürlich gestattet nur die Sichtweise des Kindes, das Erwachsensein allein an äußerlichen Merkmalen festzumachen. Geht es nach Grover, wäre Mand – selbst Vater zweier Kinder – auch einer von den »Großen«. »Wahrscheinlich, so fügt Mand dem Hinweis auf »Grovers Erfindung« dann noch hinzu, gibt es das Erwachsensein gar nicht. Nur mehr oder weniger fortgeschrittene Formen von Verfall.«
»Ich will nicht, daß ich Bäume schön finde, auf die man nicht mal klettern darf.« Auch dieser Satz findet sich in der besagten Passage aus »Grovers Erfindung«. Aus der bisherigen Geschichte Paul Schades lässt sich dann aber lernen, wie absolute Ansprüche relativiert werden, ohne dass sie ganz aufgegeben werden müssen. Wie sich ein Leben führen ließe, irgendwo zwischen Sachzwängen und Restidealismus. Im Garten des Hauses, in dem Mand mit seiner Familie in Minden wohnt, steht übrigens ein Baum, in den eine über eine Leiter zu erreichende Aussichtsplattform hineingebaut worden ist. //
Andreas Mand, »Paul und die Beatmaschine«, Maro Verlag 2006, 190 S., 12 Euro