// Als Vera Nemirova vor bald fünf Jahren an der Bonner Oper einen ambitionierten, aber arg überladenen Verdi-»Macbeth« inszenierte, galt sie noch als Geheimtipp. Mittlerweile inszeniert die Konwitschny-Schülerin an ersten Häusern und hat ihren ausufernden Stil diszipliniert. In Bonn jedenfalls schien sie mit Gounods »Faust« die Erwartungen zunächst so gar nicht erfüllen zu wollen. Bis zur Pause ging es scheinbar unspektakulär zu, wenngleich, wie sich später zeigte, die Lunten bereits gelegt waren, die dann zünden sollten.
Fausts Studierzimmer ist auf Ulrike Kunzes Bühne ein hohes schwarzes Halbrund, bekritzelt mit Formeln. Nachdem Mephisto im roten Ledersessel aus der Versenkung auftaucht und sachlich jener fatale Vertrag geschlossen wurde, drehen sich die Wandsegmente und ergeben einen hellen aseptischen Einheitsraum. Ein Pflegeheim mit vielen Türen und Notausgängen, karg möbliert, bevölkert mit Gebrechlichen. An diesem nüchternen Ort physischer und psychischer Hinfälligkeit wird ein intensives Kräftespiel entfesselt: zwischen der bei Gounod deutlich aufgewerteten Gretchen-Figur (Julia Kamenik mit flammender, die lyrischen Mittel ab und an bereits sprengenden Intensität), dem haltlosen Faust (Arturo Martin mit imponierender Höhe und schönem Schmelz bei kleinen Formschwächen) und dem als sein Alter Ego angelegten Mephisto (Martin Tzonev mit eleganter Modulation der Gefahr des eindimensionalen Bösewichts trotzend).
Den Gegenpart zu der hier gar nicht so hilflosen Gretchen-Figur bildet der Chor als bigotte, spießig geifernde Gesellschaft, von der die junge ledige Mutter brutal ausgestoßen wird. Für den – zumal leider aktuellen – Kindsmord findet Nemirova ein gegenwärtiges Bild. In die Walpurgisnacht, die sich als (rheinischer) Karneval maskiert, mischt sich im trippelnden Schritt der Angstneurose unversehens das verlassene Gretchen unters Partyvolk. Sie trägt eine graue Plastiktüte, die sie in einer Tiefkühltruhe versenkt, aus der sich zuvor die Jecken mit Alkohol versorgten.
Auch musikalisch überzeugt die Aufführung auf der ganzen Linie, wenngleich Wolfgang Lischke am Pult sehr wenig auf französisches Parfüm und Eleganz in der Farbgebung setzt, was sich beklagen ließe. Die eigenwillige, bisweilen harsche dramatische Zuspitzung von Gounods lyrisch schwelgender Musik ist sich mit der Regie-Auffassung indes ganz einig. Und damit stimmig. // REM