Vielen Düsseldorfern ist ihr Gesicht noch in Erinnerung. So fremd und verstörend, und gleichzeitig doch so eindringlich poetisch, so klassisch schön war das Gesicht, das als Plakat für die Ausstellung »Ich ist etwas Anderes« in der Kunstsammlung NRW / K20 im Jahr 2000 überall in der Stadt zu sehen war, dass es vielen Menschen nicht mehr aus dem Kopf ging. Ein klassisches Porträt im Dreiviertelprofil, altmeisterlich vor schwarzem Grund – und doch versehen mit einem unerhörten Schock-Faktor: Anstelle des Augenpaares prangte ein zweiter Mund über der Nase – eine Transformation des Schönen ins Monströse und Groteske, ein Zeitsprung von der Mona Lisa ins Gentech- Zeitalter!
Bei dem Plakatmotiv handelte es sich um ein still aus der Videoinstallation »Autoportrait«, die in der Ausstellung gezeigt wurde. Im Video sprechen beide Münder, erzählen jeweils ein Märchen – der eine auf Deutsch, der andere auf Serbokroatisch. Es geht um Fragen der Identität, Fragen, die sich wie ein roter Faden durch das Werk von Danica Dakic ziehen. Die Künstlerin stammt aus Sarajevo und besuchte dort von 1981-85 die Kunstakademie, studierte dann drei weitere Jahre in Belgrad, bevor sie 1988 nach Düsseldorf kam und hier bei Nam June Paik an der Kunstakademie ihr Studium beendete.
Den Krieg in ihrer Heimat erlebte sie aus der Ferne – und war in dieser Zeit ihrem Land, ihrer Heimat, ihrer Familie doch näher als je zuvor. Obgleich sie sich politisch nie direkt engagierte oder in einer sonstigen Form öffentlich äußerte, hatte der Krieg einschneidende Wirkung auf sie. Die Ereignisse machten sie regelrecht stumm, beraubten sie ihrer künstlerischen Stimme; solange die Kämpfe anhielten, verzichtete sie auf jedes Ausstellen: »Das Nicht- Mitmachen, das Nicht-Ausstellen in dieser Zeit war auf alle Fälle ein Statement. Allerdings hatte dieses Statement eher persönliche als politische Gründe. Ich fühlte mich so verletzt und verloren, dass ich meine Energie nur in einem sehr intimen Raum, in meinem Atelier sammeln konnte«, erzählt die Künstlerin im Rückblick. Fast manisch sammelte sie alle Zeitungsberichte und Fotos über die Tragödie in der Heimat, die sie bekommen konnte, errichtete gewissermaßen ihr eigenes Exil-Bildarchiv, nicht zuletzt um den abgerissenen Kontakt zu Familie und Freunden zu kompensieren: ein verzweifelter Versuch, die Verbindung nicht abreißen zu lassen, sich ihrer Erinnerung zu versichern. 1996, nach Ende des Krieges, stellte sie dieses Archiv als große Installation unter dem Titel »Blaues Auge « in Düsseldorf aus.
Das Verstummen angesichts der Tragödie war vielleicht der Auslöser für ein Leitmotiv ihrer bildnerischen Sprache, das seither im Zentrum von Dakics Schaffen steht: die Stimme. In den meisten ihrer Arbeiten bildet die Stimme bzw. der Klang das tragende Gerüst – für eine bildende Künstlerin sicherlich ungewöhnlich: In ihrer Klanginstallation »Lullaby of the Earth« (Bratislava 2000, Sarajevo 2002) erklingen a capella gesungene Wiegenlieder aus aller Welt aus einer Straßenbrücke in Bratislava – und verbinden die Menschen mindestens ebenso wie die Brückenarchitektur. Und auch in »Autoportrait« ist es die Stimme, das Sprechen, mit dem sich die Person definiert – nicht etwa die Augen, die gemeinhin der Identifikation einer Person dienen. Ob in »Zid« (1998), »Under Construction« (1999), »Prayer« (2002) oder »Surround« (2003) – in nahezu allen Videoarbeiten von Danica Dakic steht die Stimme im Zentrum. In der Gesangs-Performance »MS Berlin« (aufgeführt in Berlin und in Wien) setzte Dakic auch ihre eigene Stimme ein und offenbarte sich dabei in aller Fragilität dem Publikum. Dass die erste Monografie über ihr Werk, die 2004 im Revolver-Verlag erschien, den Titel »Voices and Images« trägt, erscheint nur konsequent.
Die Stimme ist für Danica Dakic Ausdruck von Körpererfahrung und -betätigung, vereint Physis und Spiritualität, sie wird in ihren Arbeiten als Träger und Kommunikator der persönlichen und kulturellen Identität erfahrbar. Dabei geht es Dakic vor allem darum, menschlicher Existenz im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinne eine Stimme und damit Ausdruck zu verleihen. Und sie konzentriert sich dabei vor allem auf Menschen, deren Stimmen normalerweise nicht gehört werden. Exemplarisch tut sie dies nun in ihrer mehrteiligen Werkreihe, die sie speziell für die diesjährige documenta 12 entwickelt hat. Roger Buergel und Ruth Noack, deren künstlerische Leiter, waren schon im Vorfeld auf Dakic’ Arbeiten aufmerksam geworden, Buergel hatte sie zu seiner »Regierungs«-Ausstellung eingeladen. »El Dorado« heißt die Arbeit, benannt nach dem sagenumwobenen Goldland, ähnlich wie das antike Arkadien eine Metapher für das Paradies, für die Utopie einer Idealwelt. Die Arbeit bezieht sich auf eine gleichnamige Luxus-Panoramatapete aus dem Jahr 1848 im Deutschen Tapetenmuseum in Kassel, die eine solche arkadische Ideallandschaft zeigt. Diese Tapete dient im wahrsten Sinne des Wortes als Folie für die Utopie einer Welt der Wünsche und Träume, der Wunschträume.
Danica Dakic nahm diesen Traum von einer heilen Welt als Ausgangspunkt, um ihn in eine soziale Umgebung hineinzutragen, die am denkbar weitesten entfernt ist von El Dorado. Sie ging in das Hephata-Heim in Kassel, ein Wohnheim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, und sprach mit den Jugendlichen über deren Lebensträume. Jugendliche, die in Kriegswirren Eltern, Heimat und jegliche kulturelle Verwurzelung verloren haben, die ohne Rückendeckung vor einem ungewissen Schicksal in einem fremden Land stehen. Sie fragte jeden der Jugendlichen nach ihren Fähigkeiten, danach, was sie glauben am besten zu können oder auch, was sie am liebsten können würden, worauf sie am meisten stolz sind. Die Annäherung erfolgte über einen Zeitraum von mehreren Monaten und war nicht immer einfach. Es galt, bei den Dreharbeiten einen Schutzwall aus aufgesetzter Coolness oder übersteigertem Geschlechterrollenverhalten zu überwinden, um an die innere Substanz eines Selbstwertgefühls heranzukommen, das oft tief verschüttet war vom Schutt tragischer Lebensläufe. Die Mühe hat sich gelohnt. Entstanden ist eine wunderbar poetische Arbeit, die mit Feingefühl und Eindringlichkeit Zwischentöne einer jungen Generation hörbar werden lässt, die in unserer Öffentlichkeit keine Stimme hat.
In der sogenannten »Schatzkammer« auf Schloss Wilhelmshöhe läuft eine Videoprojektion, in der zehn dieser Jugendlichen ihre Fähigkeiten, ihr Potenzial zum persönlichen Glück – Kampfsport, Tango tanzen, Laufen, Schlafen, Zeichnen etc. – vor der Folie selbst gewählter Räume aus dem Tapetenmuseum vorführen. Exemplarisch für alle diese Lebensläufe erzählt einer der Jugendlichen seine Fluchtgeschichte. In intensiven Bildern und Toncollagen entsteht ein Panorama aus Realität und Träumen, aus Geschichte und Zukunft einer vermeintlich geschichtsund zukunftslosen Generation von Flüchtlingen. Ein Leuchtkasten auf der gegenüberliegenden Wand zeigt die Protagonisten in einem Gruppenbild. Sie posieren vor einem riesigen Modell der El-Dorado-Tapete, die auf einem öffentlichen Platz in Kassel aufgebaut wurde – El Dorado, das goldene Land, liegt mitten in unserer Lebenswirklichkeit! Von Schloss Wilhelmshöhe führt der Weg nach El Dorado weiter ins Tapetenmuseum in Kassel zu einer Audioinstallation aus Klanglandschaften, die Dakic in die Tapeten-Idealwelten kunstvoll hineingeflochten hat. In komplexen Tonschnitten, die in Zusammenarbeit mit dem Düsseldorfer Komponisten Bojan Vuletic entstanden, erzählen Jugendliche mit Migrationshintergrund aus ganz unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens. Sie singen, rappen, tanzen, nehmen Stellung zu bestimmten Begriffen und brechen so die Bilder von der heilen Welt in ihren ganz persönlichen Lebensgeschichten, weisen verschiedene Wege ins verheißene Land und thematisieren die Barrieren auf diesem Weg. So sprechen die Tapetenbilder zum Besucher und lassen die Luxus-Bilderwelten in ganz anderem Licht erscheinen. Schließlich wird Danica Dakic selbst noch in einer Performance als klingender Körper auftreten. Mit einem aus den Tapetenmustern entworfenen Kleid, in das Lautsprecher installiert sind, wird sie Besucher durch ihr El Dorado führen.
El Dorado, das von uns allen gesuchte Paradies, so lernen wir von dieser schönen Arbeit, findet sich nicht nur in Schatzkammern und in musealer Vergangenheit. Die Suche lohnt sich auch in den eigenen vier Wänden zwischen den Tapeten, auf einem öffentlichen Platz in Kassel – oder in einem Flüchtlingsheim. //
Der Kunsthistoriker Dr. Reinhard Spieler ist der künftige Direktor des Wilhelm-Hack- Museums in Ludwigshafen. dokumenta 12 vom 12. Juni bis 23. September in Kassel. www.documenta12.de