Goethes »Verwandlung der Welt«: Die Bundeskunsthalle Bonn und die Klassik Stiftung Weimar betrachten den Dichter und seine Gärten.
Goethe in einem Brief: »Sieh, Lieber, was doch alles Schreibens Anfang und Ende ist, die Reproduktion der Welt um mich durch die innere Welt, die alles packt, verbindet, neuschaf, knetet und in eigener Form, Manier wieder hinstellt.« Für den universalen Goethe lässt sich dieses Zitat nicht nur auf sein Dichten beziehen, sondern es gilt auch für anderes Hervorbringen. Seine Schöpferlust und Fleißeskraft erfüllen sich im sinnlich greifbaren Handeln und Formen. »Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle.«
Riecht man bei diesen Worten nicht die Erde, die er »knetet«? Goethe diktierte oft dem Sekretär, Famulus oder Sohn und wanderte dabei in seinem Zimmer. Dichtung ist Bewegung: »Es schlug mein Herz, geschwind, zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht.« Das Faustische will hinaus aus der Studierstube, ins Freie, in die Natur zur Anschauung der Phänomene. Hinaus aus der deutschen Kleinstaaterei, geistigen Enge, Amtszwängen und Miseren – von Karlsbad nach Italien, wo der Mittdreißiger Luft schöpft, den Körper dehnt, in dunkle Augen schaut.
Eingegrabene Reisekutsche
Seine Reisekutsche in monochromer Nachbildung (Installation von Asta Gröting) liegt wie eingegraben auf dem Boden der Bundeskunsthalle, so dass nur Räder, Deichsel und – in Umkehrung – der Kabinenboden herausragen. Ab durch die Mitte geht es von da zu den kreisförmig abzweigenden, farblich unterschiedenen neun Stationen.
Goethe als identitätsstiftende Figur, Konstrukt und Monument des Genie-Kults, und als Autorität, die funktionalisiert wird, auch im vermeintlich guten Sinne – von Friedrich Ebert bis Christian Wulff, diesseits wie jenseits der Mauer – diese Facetten stellt das Katalog-Vorwort des Kurators Torsten Valk zur Diskussion. Mit Karl Jaspers’ Aufforderung zur »Revolution« in der Beschäftigung mit Goethe, zumal nach Buchenwald und allem, was dafür steht, macht die Ausstellung ernst. Sie beabsichtige dreierlei: »Rekonstruktion kulturhistorischer, gesellschaftspolitischer und sozialgeschichtlicher Zusammenhänge; Reflexion einer mehr als 200-jährigen Goethe-Rezeption; ästhetisch-hermeneutisch orientierte Auseinandersetzung mit Goethes Werken vor dem Horizont unserer gegenwärtigen Lebensrealität«. Das geschieht in den weit gefassten Kapiteln mit 250 Objekten, Porträts, Büsten, Schriften, Gemälden, Stichen, Goethes eigenen Zeichnungen, Mobiliar, Zeitzeugnissen. Metamorphose dient auch hier als Impuls.
Widerspruchsgeist, Krisen, Zerrüttung
Das Element dieses Proteus ist Wechsel und Wandel, Dauer im Wechsel. Darin enthalten ist aber auch ein seinem Wesen zugehöriger Widerspruchsgeist, sind Krisen, Brüche, Verstörung und Zerrüttung. Natur ist gefährlich und gefährdet, nie harmonisch. In Goethe mischten sich Unrast, Wissbegier, kränkelnde Nervosität mit repräsentierender, gewissermaßen pflanzlicher Verwurzelung, der Wunsch des Fliehens mit dem des Bleibens. Er lebte nach seinem eigenen Gesetz. Das war seine Natur: der Rhythmus von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, des Blühens, Frucht-Tragens und Erntens, Gedeihens und Sterbens. In Goethes Handschrift lesen wir ein Pergament mit aufgeklebtem Blatt des Gingko bilboa. Dort steht: »Ist er Ein lebendig Wesen, / Das sich in sich selbst getrennt, / Sind es zwey die sich erlesen, / Daß man sie als eines nennt.«
Auf dem Dach der Ausstellungshalle wurden Goethes Gärten am Frauenplan und in der Ilm-Aue mit streng gegliederten Beeten für Zierblumen, Küchenkräuter und dem botanischen Experimentierfeld angelegt. Dort endet die kleine Malvenallee bei einem Denkmal mit Würfel und aufliegender Kugel: Beständigkeit und bewegte Veränderung symbolisierend. In Goethes Lebensmitte ereignet sich die Französische Revolution – er kommentiert den blutigen Tumult distanziert – und später die industrielle Revolution. Radikale Epochenschnitte und wiederum: Wandel. Das Rokoko und die Ständegesellschaft des Alten Reichs seiner Frankfurter Kindheit (ein Gemälde zeigt die Familie idyllisierend in Schäfertracht) im Großen Hirschgraben, in der seine Schwester Cornelia und er den Bildungskanon erwarben. Johann Wolfgang studierte dort die Luther-Bibel. Er wurde zum Shakespeare-Bewunderer, Leser Lessings (vor allem der Laokoon-Schrift über die Idee und Möglichkeit der Kunst) und vertraut mit der Antike wurde.
Goethe in Arkadien
Die stürmische »Werther«-Fantasie rettete den Dichter, indem er den Helden des Briefromans von eigener Hand sterben ließ. Sie möchte ihn populär und wurde ein europäisches Ereignis. Zu erkennen an zahlreichen Darstellungen, bis hin zum Meissner Porzellan-Service, Imaginationen der Werther-Grabstätte und Standfotos aus vier Goethe- und Werther-Verfilmungen der DDR und Bundesrepublik, darunter Philipp Stölzls atemlose Eloge.
Wie im ergänzenden Kontrast dazu steht das Kapitel »Faust«. Das Stück ist Thema auch im Spiegel der Inszenierungen auf dem Theater von Reinhardt und Gründgens bis Marthaler, Talheimer und Castorf. Für Goethe war es ein 60 Jahre währendes Lebenswerk, sich den Urstoff anzuverwandeln. Der Mensch und Übermensch wettet um sein Unruheprinzip, getrieben zum Bezwingen der Welt, der Zukunft, der Liebe. Faust – ein Scheiternder, dem nur Gottes Gnade hilft.
Die zwei befreienden, ungeheuer wichtigen Jahre in seinem Arkadien sind sprichwörtlich geworden: »Kennst du das Land …« Goethes Begegnung mit der Klassizität, dem römischen und dem griechischen Altertum sind seinem Werk eingeschrieben, in Poesie, im »Tasso« und in der »Iphigenie«, in »Wilhelm Meister« und »Faust II«. Der Apoll von Belvedere und Raffaels Schule von Athen sind nur zwei Pförtner in den mediterranen Kulturraum. Tischbeins berühmtes Bild des in der Campagna lagernden Goethe im hellen Reisemantel, von Andy Warhol seriell bunt gefertigt, führt bis zu touristischen Prospekten oder Cy Twomblys strukturierten Leinwänden als Goethe-Hommage und Barbara Klemms Fotografien. Sein Haus am Frauenplan begrüßt den Gast auf der Treppe bereits mit einer antiken Skulptur zweier Jünglings-Freunde. Einen Salon dominiert der Abguss der Juno Ludovisi, die auch in Bonn das majestätische Haupt erhebt.
Humanist und Heide
Von den Sinnesorganen ist für Goethe das Auge das zentrale. Es war ihm wichtig als Instrument der Erkenntnis und für die konkrete Anschauung der Welt. Danach auch hat er seine umfangreiche »Farbenlehre« konzipiert. Einflüsse seiner Experimente zum Aufbau des Farbkreises und der Theorie zur Polarität der Farben finden sich in Werken u.a. von William Turner, den Bauhaus-Künstlern Josef Albers und Johannes Itten, Piet Mondrian, Paul Klee und Ólafur Elíasson. »Der europäische Humanist und ausgemachte Heide«, so Tomas Mann, der sich in die Nachfolge Goethes stellte und sich in sie hineinschrieb mit »Doktor Faustus« und »Lotte in Weimar«, war mit seinen Deutschen nicht per Du.
Überhaupt nicht einverstanden war Goethe mit der jungen Bewegung der Romantik, die ihm die Vorherrschaft streitig machte. Ihre Revolte, gespeist aus empfindsamen, nationalpatriotischen, christlich mittelalterlichen oder todesgläubigen Motiven, wandte sich gegen Goethes Kunstprogramm. Dennoch sahen die Romantiker im »Wilhelm Meister« eine »progressive Universalpoesie« (Friedrich Schlegel) erreicht.
Die Sehnsuchtsfigur Mignon inspirierte Maler und etwa Schumann und Schubert zu Vertonungen, artete freilich auch in Postkarten-Kitsch aus. Georg Herolds ironisch-ehrerbietige »Goethe-Latte« (1982) zeigt den Abstand zwischen uns und ihm. Thomas Mann soll das letzte Wort haben. Seinen imaginären Goethe, sitzend bei Lotte in der Kalesche, lässt er sagen: »Erst opfert man dem Gott, und dann ist der Gott das Opfer.« Auch dies, wie alles – Verwandlung und Geheimnis.
»VERWANDLUNG DER WELT«,
Idee und Konzeption: Thorsten Valk
Kunst- und Ausstellungshalle
der Bundesrepublik Deutschland, Bonn.
Bis 15. September 2019