»Ist schon wahnsinnig grün hier.« Da ist er dann doch, dieser Satz, den Ruhrgebietler immer dann zu hören bekommen, wenn Besuch von auswärts da ist. Oft verwundert vorgetragen. Bei Wolfram Eilenberger ist das anders. Der haut am Ende eines Gedankengangs lächelnd und mit herausfordernd blitzenden Augen gern solche Sätze heraus und lehnt sich dann entspannt zurück – ein freundlicher Provokateur, darauf wartend, wie der Gegenüber reagiert und ihm den Ball bestenfalls ähnlich lustvoll zurück drischt. Dazu ironiefähig. Keine schlechte Wahl der Essener Brost-Stiftung, so jemanden wie ihn für ein Jahr als Stadtschreiber Ruhr zu verpflichten. Einen, der den nötigen Blick von außen mitbringt und Spaß an Debattenrauferei hat.
»Man kann nirgendwo besser über Heidegger sprechen als in Shanghai!«
Wolfram Eilenberger
Wolfram Eilenberger, Jahrgang 1972 mit »Reihenhausjugend« in Karlsruhe, ist Philosoph, Schriftsteller und Publizist, Gründungs-Chefredakteur des Philosophie-Magazins, Teil der Programmleitung der »phil.cologne«. Er moderiert die »Sternstunden der Philosophie« im Schweizer Fernsehen und hat einen DFB-Fußballtrainerschein (B-Lizenz). Sein aktuelles Buch »Zeit der Zauberer«, in dem er sich mit dem großen Jahrzehnt der Philosophie zwischen 1919 und 1929; mit Heidegger, Wittgenstein, Benjamin und Cassirer beschäftigt, wurde in über 20 Sprachen übersetzt. »Ja, läuft ganz gut«, sagt er lachend. Das zeige das weltweite Interesse an den 20er Jahren in Deutschland: »Man kann nirgendwo besser über Heidegger sprechen als in Shanghai!«
Im Buch verbindet Eilenberger den damaligen Alltag mit den Geisteswelten der vier Philosophen. Aber warum gerade diese vier Herren? »Das hat mit dem Verständnis zu tun, dass man Philosophie nicht als reine Theorie begreift, sondern als eine Art, das eigene Leben zu gestalten«, sagt Eilenberger. »Für sie war die Philosophie eben keine akademische Disziplin, sondern ein Lebensentwurf.«
Walter Benjamin an jeder Ecke
Eilenberger beschreibt das Dasein der Vier sehr gegenwärtig, wie etwa bei Walter Benjamin, der die Uni-Karriere sausen ließ, um als freier Kulturjournalist zu arbeiten. »Das war auch die Idee. Wenn ich nicht im Ruhrgebiet bin, lebe ich in Berlin-Mitte, da sehen Sie Walter Benjamins an jeder Ecke.« Benjamins Lebensentwurf von damals sei absolut lebendig. »Das gilt auch für die anderen drei. Wittgenstein der Spirituell-Suchende, Heidegger ist so eine Art Pegida-Denker, der erdnah verankert ist; Cassirer die großbürgerliche Denker-Existenz und Benjamin eben der prekäre Kreative.«
Das heutige Ruhrgebiet ist für Eilenberger kulturelle Fremde, wie er zugibt. Ein Ort, zu dem er weder biografisch noch mental eine besondere Beziehung habe: »Ich kenne viele andere Erdteile wesentlich besser. Das war irgendwie wie eine komplizierte Baustelle, die ich bislang umfahren habe. Deswegen fand ich es auch interessant, diese Stadtschreiberschaft anzunehmen, weil es eine Art Eigen-Ethnologie ist – also in ein Gebiet in Deutschland zu fahren, das einem das fernste überhaupt ist.« Was will er anders machen als seine Vorgänger*in, die Erzählerin Gila Lustiger und der Reporter Lucas Vogelsang? »Da muss man sich selbst richtig einschätzen. Ich bin für Essays und der Vermengung von Ideen und Gebieten, die mutmaßlich nicht zusammenpassen, bekannt. Ich kann hier jetzt nicht zum Reporter werden und ich werde auch nicht versuchen, Fiktion als Fiktion zu schreiben. Insofern sehe ich die Aufgabe für mich hauptsächlich, eine Neu-Beschreibung des Ruhrgebiets vorzunehmen.«
Neue Identität für das Ruhrgebiet
Klingt nicht einfach, ein so oft beackertes Feld so umzupflügen, dass Neues sichtbar wird. Um im Bild zu bleiben: Aber vielleicht hilft auch hier der Blick des fremden Wanderers, der das Feld erstmals sieht. Für Eilenberger ist das Ruhrgebiet in einem Bild von sich gefangen, das so nicht weiterführbar sei: »Die Erzählung dessen, was es heißt, das Ruhrgebiet zu sein, ist eine fossile Erzählung, die keine Zukunft hat. Mein Eindruck ist, dass es eine Geschichte ist, die zu stark oder fast ausschließlich in die Vergangenheit weist. Das ist keine gute Situation. Es muss gelingen, ihm mehr Impulse zu geben für eine neue, nach vorn gewandte Identität.«
Für seine Texte will Eilenberger seine Verbindung von Philosophie und Alltag weiterführen: »Ich arbeite einerseits mit konkreten Erfahrungen, andererseits mit sehr abstrakten Ansätzen. Ich plane bis Mai Erfahrungssplitter zu sammeln und damit, ergänzt durch theoretische Ansätze, was Identität ist und was sie bedingt, zu arbeiten. Es werden aber sicher Essays, die sich am Ende hoffentlich zu einer Einheit verbinden«. Die Themen lägen auf der Straße – etwa die Tatsache, dass es keinen großen Ruhr-Roman über die Region gibt, das sei »soziologisch ganz unglaublich für eine der dichtbesiedelsten Zonen Deutschlands!« Oder die Olympia-Bewerbung, die er für einen »richtigen Impuls« hält. Der Nahverkehr, »ein Symbol des Scheiterns der Region«. Der fehlende Mut der Ruhr-Einwohner, »das Bewusstsein der eigenen Größe auch richtig zu formulieren«. Mit dem Satz »Woanders is auch Scheiße« kann Eilenberger wenig anfangen, der sei zwar lustig, verdichte aber auch das Problem. »Das ist die rein re-aktive Art und Weise, wie man nicht über sich denken sollte: Wir sind nicht schön, aber ihr seid auch hässlich.«
Die Region wachküssen
Eilenberger hofft, dass das Ruhrgebiet irgendwann richtig wachgeküsst wird und beginnt sich bereits wohlzufühlen: »Diese Berliner Alltagsverwahrlosung, die gibt es hier nicht. Die Leute sind freundlich und hören einem zu. Die Bäckerin grüßt sogar!« Und dann fügt er jenen einen Satz hinzu und grinst schelmisch: »Für jemanden, der so vorurteilsdicht ist wie ich: Ist schon wahnsinnig grün hier.«
Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer – Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929, Klett-Cotta, 431 Seiten, 25 Euro (auch als Taschenbuch erhältlich)
Lesung am 16. März 2020 in der Buchhandlung Proust, Essen